"Middle England" war mein liebstes Buch von Jonathan Coe, "Bournville" habe ich auch gemocht. Mit dem neuen Buch "The Proof of my Innocence" hadere ich ein wenig. Ich mag die satirische Darstellung der britischen Gesellschaft, die in Coes Büchern oft im Mittelpunkt steht. Die gibt es auch hier, doch sie ist mir etwas zu oberflächlich.
Coe hat sich hier ein literarisches Experiment erlaubt. Er beginnt seinen Roman mit einem Prolog: Eine Detektivin vom Typ Miss Marple sitzt im Zug und ist kurz davor, ein verdächtiges Subjekt, das ein paar Reihen vor ihr sitzt, zu verhaften. Darauf folgt ein Prolog genannter Teil, in dem Phyll vorgestellt wird. Die junge Frau aus wohlhabendem Haus (Mutter Vikarin) steht nach ihrem Uni-Abschluss vor der Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen soll (mäßig originell!), und verdingt sich derweil am Heathrow Airport als Hilfskraft in einem Sushi-Restaurant (scharfe Messer!). Sie überlegt zu schreiben und ist sich nicht sicher, ob es Cosy Crime, Dark Academia oder Autofiction sein soll. Die nächsten drei Teile des Buches sind dann auch diesen so beliebten Genres zuzurechnen, also zunächst eine typische locked-room-Mordgeschichte in einem bröckelnden englischen Landhaus. Das Opfer (Messer!) ist ein alter Freund von Phylls Mutter aus Collegetagen in Cambridge. Geheime Gänge, mehrere verdächtige Gestalten aus der Upper Class und der Universität mit ultrarechtem Gedankengut, die Detektivin vom Beginn des Buches taucht wieder auf. (Einen Krimi nach diesem Muster wollte ich eigentlich nicht lesen.) Es folgt die Dark Academia Story: ein Memoir eines weiteren Universitätsfreundes der Mutter, in dem ein nach rechts tendierender Autor eine Rolle spielt, von dem man glaubt, er habe sich umgebracht. Geheimnisumwitterte rechte Salons. Danach der "Autofiction"-Teil, in dem Phyll und ihre neue Freundin (Adoptivtochter des Mordopfers) den Mord mit ihren Mitteln aufklären wollen (teilweise zum Haareraufen absurd, womöglich als Satire beabsichtigt?) Ein Epilog, der einiges offen lässt, beendet das Konglomerat.
Der Roman spielt zur Zeit des Todes der Queen in den kurzen Regierungstagen von Liz Truss und auf einer zweiten Ebene in den 80er Jahren im Collegemilieu in Cambridge. Die Tories und ihre Thinktanks sind immer wieder Ziel des Spotts und der Anklage. Es gibt bittere politische Wahrheiten. Daneben geht es auch um das Schreiben selbst und die Wahrheit in der Fiktion (vgl. literarisches Experiment, zuweilen eher langweilig). Coes Ton ist oft humorvoll, stellenweise richtig lustig. Aber das Ganze ist zu zerfleddert für mich. Zu viel gewollt?