Annie Ernaux erzählt von ihrer Mutter und dem aussichtslosen Kampf gegen die Alzheimer-Erkrankung, von einer großen Liebe und der Zerstörungskraft des Vergessens. Und sie verewigt so, im Moment ihres Verschwindens, den Menschen, der ihr das Leben geschenkt hat.
Die Mutter verliert das Gedächtnis - mehr und mehr scheinen ihr die Familie, die Welt, das Leben abhandenzukommen. Annie Ernaux hält die Gespräche mit ihr fest, schreibt sie auf, intuitiv, aus der existenziellen Angst vor dem Verlust, wie gejagt von der Gewalt des Verfalls und der Erinnerungswucht an diese Kranke, die noch immer ihre Mutter ist. Mehr als ein Jahrzehnt bleiben diese Aufzeichnungen in der Schublade.
Und doch entschließt sich Ernaux später, diese Seiten zu veröffentlichen, weil es nicht nur ein Bild ihrer Mutter geben soll: sondern die Vielheit der Wahrheiten. So wird die Chronik eines langsamen Abschieds und einer schrecklichen Zerstörung lesbar - aber auch die Pionierleistung Annie Ernaux`, die schmerzhafte Suche nach der Sprache für eine Krankheit, die damals noch kaum beschrieben war.
Besprechung vom 22.06.2025
Besondere Vorkommnisse
Alzheimer
In der Hitze des Sommers 1983 erleidet die Mutter von Annie Ernaux einen Schwächeanfall. Im Krankenhaus diagnostiziert ein Arzt Alzheimer. Ernaux ist entsetzt über den raschen geistigen Verfall ihrer Mutter, deren Hilflosigkeit, schwindende Erinnerungsfähigkeit und fehlender Orientierungssinn sie wütend machen und fassungslos. Sie beginnt ein Tagebuch, hält auf losen Blättern in klaren, vollkommen unsentimentalen Sätzen einiges von dem fest, was die Mutter gesagt oder getan hat, dazu ihre eigenen ambivalenten Gedanken und Gefühle und Erinnerungen an die Kindheit ("Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus", Suhrkamp, 22 Euro). Ohne Scham, schonungslos beschreibt sie die Gier der Mutter beim Essen, die zunehmende Verwahrlosung, aber auch ihren unbändigen Lebenswillen. Bei jedem Besuch hofft die Mutter, die Tochter würde sie wieder zu sich nehmen; erst allmählich dämmert ihr, dass sie aus der Geriatrie lebend nicht mehr herauskommen wird. Annie Ernaux fühlt und denkt, so schreibt sie, bei ihren Besuchen selbst nichts, erst zu Hause schreibt sie dann alles auf, mit all der Erschütterung, in der sie sich befindet, kommt dabei auch immer wieder auf die Ähnlichkeit, die sie zwischen sich und der Mutter erkennt, zurück, spricht über ihre eigene Sterblichkeit, die Angst vor einem Schicksal wie dem ihrer Mutter. Eine Angst, die auch die Leserin, der Leser kennen und der sie beim Lesen offenen Auges ins Gesicht sehen. beha
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.