
Besprechung vom 11.10.2025
Mit dem Trauma tanzen gehen
Selbstentblößend, dabei eine steile Geschichte erzählend: Clemens J. Setz montiert ein Journal als Weg zum Erfolg.
Von Jan Wiele
Von Jan Wiele
Das vorliegende Tagebuch des 1982 geborenen österreichischen Schriftstellers Clemens Setz erinnert an einen bemerkenswerten Satz der 2009 verstorbenen österreichischen Dichterin Elfriede Gerstl: "Tagebücher sind zwar Dokumente der Zeit, aber immer auch Dokumente persönlichen Unglücks." Denn was man hier in den Aufzeichnungen eines jungen Mannes zwischen dem Beginn seines Zivildienstes und den ersten Erfolgen als freier Schriftsteller liest, das zeugt mitunter von großem Unglück. Etwa im Eintrag vom Januar 2001: "J. ist zuhause bei ihren Eltern in Innsbruck, bei ihrem brutalen Vater, der sie schon weiß Gott wie misshandelt hat; ärger als mein eigener mich." Wenn man später vom Tagebuchschreiber über die Anfälle und Ausfälle seines eigenen Vaters liest, sogar von einer gegen ihn und seine Mutter ausgesprochenen Morddrohung, wird der Vergleich beider Väter noch anschaulicher.
Die nur als "J." abgekürzte junge Frau verlangt dem Verfasser aber selbst viel ab. Sie leidet unter einer Depression mit ständigen Panikattacken derart, dass er sie kaum alleinlassen kann: "Jeder kleinste Spaziergang ein Verrat an seiner Partnerin, die zu Hause mit Angstzuständen wartet. Ständige Gefahr von Selbstverletzung, oder Schlimmerem, in seiner Abwesenheit. Er hat nach der Uni auf dem schnellsten Weg nach hause zu kommen, wie ein Schulkind mit strengen Eltern." Der Wechsel in die Er-Form deutet bereits eine literarische Entgrenzung an, die im Folgenden noch augenfälliger wird: "Er erlaubt sich allerdings gelegentlich, den Bus zu versäumen und dann schuldbewusst durch die sommerlich duftende Allee zu schleichen, bis zur nächsten Haltestelle. Jeder Mistkübel, an dem er vorbeikommt, jeder Zaun und jedes Verkehrsschild werden dann Zeilen eines minutenlang erblühenden Gedichts."
Die Engführung der Extremzustände mit dem Beginn einer literarischen Existenz wirkt in diesem Tagebuch bisweilen mutwillig, und dennoch wird sie immer triftiger. Setz scheut kaum eine Entblößung. Er legt ganz bewusst erfahrene Traumata als Ursache für sein literarisches Schreiben aus und umgekehrt dieses als ihre Umwandlung "in etwa Spielartiges, vielleicht sogar Tänzerisches". Das zeigt sich an der vorliegenden Textauswahl, die laut Angaben nur eine Bruchteil der Niederschriften jener Jahre darstellt, in Form einer Mischung aus Beobachtungen, Lektürenotizen, Ansätzen zu Gedichten oder auch Geschichten, die teils absurden, teils traumhaft selbstreflexiven Charakter haben ("Eines Nachts bricht der Balkon ab und schwebt mit ihm davon. Aventiure-Fahrt durch das nächtliche Graz, Begegnungen mit einigen von ihm zu Lebzeiten verehrten Orten und Erinnerungen"). Auch als Übersetzer übt sich der Schreiber schon, und zwar durchaus überzeugend. Und er legt, während er seine äußerst vielseitigen und idiosynkratischen Lektüren aufzählt, auf sympathische Weise Einflüsse offen, etwa den von Lydia Davis.
Eher en passant erfährt der Leser dann, dass Setz seinen ersten und dann einen weiteren Roman veröffentlicht hat, während man ihn gerade noch im Kampf mit einer Universität sah, die ihm weltfremd erschien und mit der Aussicht "Mathematiklehrer an irgendeinem Gymnasium zu werden".
Interessanterweise rahmt der Autor die Textsammlung als "die Geschichte der ersten zehn Jahre meines Erwachsenenalters", also als eine gestaltete eher denn eine nur protokollierte. Als solche läuft sie auch auf eine Pointe hinaus, die sich allerdings erst mit dem Wissen über Ereignisse der folgenden Jahre erschließt: Im allerletzten Eintrag vom 1. Januar 2011 lesen wir unter dem Stichwort "Ein neues Jahrzehnt", wie Clemens Setz an diesem Neujahrstag zu seiner früheren Schule geht und mit der Kohle einer ausgeglühten Silvesterrakete auf den Asphalt in Großbuchstaben das Wort "selber" schreibt. Diese ironische Erinnerung des fast Dreißigjährigen an den typischen Wunsch eines Dreijährigen gewinnt einen frappierenden Ernst, wenn man sich klarmacht, welche Selbstverwirklichung ihm in dem hier angebrochenen Jahrzehnt dann gelungen ist: nämlich in Form einer schier unglaublichen schriftstellerischen Produktivität, für die er 2021, noch nicht vierzig, völlig verdient den Georg-Büchner-Preis erhielt.
Clemens J. Setz: "Das Buch zum Film". Aufzeichnungen 2000 - 2010.
Verlag Jung und Jung, Salzburg 2025.
192 S., geb.
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