Paul Lynchs Roman Jenseits der See ist ein Meisterwerk.
Eigentlich passiert auf der äußeren Handlungsebene gar nicht viel ein Mann und ein Junge fahren gemeinsam aufs Meer um zu fischen, sie geraten in ein Unwetter und schaffen es nicht mehr, zurück an Land zu kommen, sondern treiben stattdessen tage-, wochen-, monatelang auf hoher See. Mehr wird vom Inhalt nicht verraten. Und doch kann gesagt werden, dass es dieses gut 100-seitige Büchlein in sich hat, es geht um das Ganze, ein Spiel auf Leben und Tod, eine Charakterstudie, die bewegt, ergreift, mitreißt und nicht einen Moment langweilig wird.
Der Leser ist gespannt, gebannt, entzückt und geschockt. Inhalt und Form sind grandios verbunden und ich bin von dem Autor ein zweites Mal, nach dem Prophet Song, begeistert. Lynch schafft es, eine eindrucksvolle, poetische Sprache zu verwenden, diese Dichte, Bildhaftigkeit und Sprachgewalt überwältigt. Dazu kommt der Inhalt, auf engstem Raum passiert so viel, eine Fahrt in die Abgründe des Menschen, ein Kammerspiel.
Im Fokus steht der Mensch in Bezug zum Menschen und in Bezug zur Natur, beides, sowohl als Freund und als Feind, eine existenzielle Situation im Boot, totale Abhängigkeit, Offenbarung, Selbsterkenntnis. Ich war hin und hergerissen zwischen Sympathie, Mitgefühl, Horror und Ekel, hatte Verständnis, habe gehofft und haben mitgefiebert. Der Junge hat mein großes Mitgefühl, Bolivar, der erfahrene Seemann tut mir leid, lässt mich schaudern, hat aber ganz eindeutig auch falsch gehandelt. Ich bin hin und hergerissen, ob ich ihm verzeihen kann. Beide sind keine Sympathieträger und trotzdem konnte auch ich mich im Laufe des Romans immer besser in sie hineinversetzen und hatte Mitleid mit beiden.
Auf der einen Seite steht der arme, unschuldige Hector, der sein Leben eigentlich noch vor sich hat, verliebt und eifersüchtig ist, seine Gedanken drehen sich obsessiv um seine Freundin an Land, die er weder liebt und noch einschätzen kann. Und dann Bolivar, der Macher und Macker, von sich selbst sehr überzeugt, der aber mit der Zeit zu immer sensibleren Gefühlen und Wahrnehmungen fähig wird und es entwickelt sich eine seltsame Freundschaft oder vielleicht besser Schicksalsgemeinschaft zwischen den beiden. Zwei Menschen treffen aufeinander, die ganz unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen und die dieser Ausnahmesituation unterschiedlich trotzen können. Hector bringt viel weniger Stabilität, Gesundheit und Kraft mit, während Bolivar eine ganz andere Konstitution hat. Es hat sowohl mit der mentalen Einstellung als auch mit der körperlichen Verfassung zu tun, wer die Chance auf ein Überleben ergreifen kann und natürlich auch mit dem Zufall und dem Glück, die Geschichte hätte auch eine andere Wendung nehmen können die dichterische Freiheit liegt bei Paul Lynch. Die Entwicklung der Beziehung wird grandios geschildert, die unterschiedlichen Phasen, Feindschaft, Aggressionen, Abneigung, dann kommt die Öffnung, man lernte sich kennen, Zuneigung, Freundschaft, Vertrauen, Abhängigkeit, dann entwickelt sich die Beziehung wieder zum Negativen das ist ungemein spannend und glaubhaft.
Beide Männer erkennen zusehends die Wahrheit des anderen, dass jeder wie der andere hilflos in der Wahrheit all dessen ist.
Für mich Booker-Preis würdig und -verdächtig. Erinnert von der Ausgangslage an Hemingway, sprachlich aber eher an Poesie, an Virginia Woolf oder Thomas Mann - hervorragend und eine klare Leseempfehlung.