Preisgekrönte Weltautorin, politische Kämpferin und eine der mutigsten Frauen unserer Zeit: Bewegt von dem Ansturm der Erinnerungen und Gefühle, die vom Tod der Mutter hervorgerufen werden, erzählt Arundhati Roy in »Meine Zuflucht und mein Sturm« die zutiefst beeindruckende und manchmal verstörende Geschichte ihres eigenen Lebens. Ein intimer, bedeutsamer und sensibel erzählter Blick auf Kindheit und Gegenwart, auf vererbten Widerstandsgeist und die Lebensrealität in Indien. Und eine Geschichte über Geschwister, die zusammenhalten gegen mütterliche Gewalt, sowie eine junge Frau, die ausbricht, um eine der unerschrockensten Stimmen unserer Zeit zu werden.
»Auf diesen Seiten wird meine Mutter, meine Gangsterin leben. Sie war meine Zuflucht und mein Sturm. «
Besprechung vom 24.09.2025
Mittelfingeraktivismus
Wie Arundhati Roy vor ihrer Mutter davonlief, um sich in den mütterlichen Schutzmantel zu hüllen: Die indische Autorin erklärt kanadischen Studenten die Paradoxien moralischer Kriegführung.
Drei Wochen lang hatten Studierende der Universität von Toronto im Frühsommer vergangenen Jahres auf dem Hauptcampus ein Zeltlager unterhalten, um gegen die israelischen Militäraktionen in Gaza zu demonstrieren. Dann räumten sie nach einem Ultimatum der Hochschulleitung friedlich das Gelände. An dieses "am längsten bestehende Zeltlager an einer nordamerikanischen Universität, das den Protest gegen den Genozid in Gaza zum Ausdruck brachte", erinnerte Alissa Trotz, Direktorin des Instituts für Frauen- und Genderstudien, unter großem Beifall des Publikums, als sie am 12. September in der prächtigen Rotunde der Convocation Hall der Universität Arundhati Roy begrüßte, die in Torinto ihr neuestes Buch vorstellte, "Mother Mary Comes To Me".
Die indische Booker-Preis-Trägerin, politische Essayistin und Aktivistin übte jüngst wiederholt scharfe Kritik an Israels Vorgehen gegen die Palästinenser und der "Komplizenschaft" des liberalen Westens mit dem, was sie als Völkermord bewertet, hat jedoch zugleich vermieden, die Hamas zu romantisieren. "Ich bin mir völlig darüber im Klaren", sagte sie etwa anlässlich der Verleihung des nach Harold Pinter benannten Preises des britischen PEN in London vor einem Jahr, "dass es für mich als Schriftstellerin, Nichtmuslimin und Frau sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich wäre, unter der Herrschaft der Hamas, der Hisbollah oder des iranischen Regimes sehr lange zu überleben", um sodann davor zu warnen, "Israels Verbrechen gegen die Menschlichkeit" mit dem Verweis auf die Politik der Hamas zu neutralisieren.
In Toronto griff Roy, die wie viele im vollgepackten größten Hörsaal der Universität ein Palästinensertuch trug, den Krieg in Gaza kurz auf, als sie einleitend darlegte, dass "dieses Buch während des live gestreamten Völkermords in Gaza geschrieben" worden sei, und hinzufügte: "Die Trauer darüber durchdringt dieses Buch, wie sie alles durchdrungen hat, was wir tun." Mehr über diese Durchdringung sagte sie während der Veranstaltung jedoch nicht, und weder im Gespräch mit der indigenen Autorin und Künstlerin Leanne Betasamosake noch in den Publikumsfragen kam das Thema Gaza erneut zur Sprache.
Stattdessen las Roy zunächst aus dem Eingangskapitel ihres ersten autobiographischen Werkes, einer bewegenden Schilderung ihrer komplexen Beziehung zu ihrer Mutter, die sie als "meinen Schutz und meinen Sturm" charakterisiert. Mit durch den Tod ihrer Mutter Mary im September 2022 "gebrochenem Herzen", aber verwirrt und "mehr als nur ein wenig beschämt" über die Intensität ihrer Reaktion auf diesen Tod, habe sie begonnen, das Buch zu schreiben, um ihre Gefühle gegenüber der Frau zu verstehen, vor der sie mit achtzehn Jahren weggelaufen war, "nicht weil ich sie nicht liebte, sondern um sie weiterhin lieben zu können".
So beginnt diese erstaunliche, manchmal verstörende, stellenweise sehr witzige Autobiographie über den Weg der Autorin von ihrer Kindheit in Kerala, wo ihre alleinerziehende Mutter eine Schule gründete, bis zum Schreiben ihrer preisgekrönten Romane und Essays und zu den politischen Auseinandersetzungen. Roys Buch ist keine Hagiographie, sondern eine unverblümte Schilderung der Mutter-Tochter-Beziehung, die sie an einer Stelle bildlich als "eine respektvolle Beziehung zwischen Atommächten" charakterisiert. Das größte Vermächtnis ihrer Mutter sei im Übrigen "ein überaktiver Mittelfinger". "Mother Mary Comes To Me" ist aber nicht nur eine turbulente Familienchronik, sondern gefüllt mit Episoden voller Exzentrik, schelmischem Humor und den Absurditäten des Kleinstadt- und Großstadtlebens in Indien im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Durch die Erzählung zieht sich Rock-'n'-Roll-Musik: Joe Cocker, Jimi Hendrix, Janis Joplin, die Beatles und "Jesus Christ Superstar". "Gimme Shelter" von den Rolling Stones lief endlos auf einem alten Plattenspieler, während Roy an ihrer Abschlussarbeit für die Architekturhochschule arbeitete. Der Titel des Buches, der aus dem Beatles-Song "Let It Be" stammt, "landete wie ein Schmetterling auf meinem Handgelenk", sagte sie in Toronto. Und sie fügte lächelnd hinzu: "Meine Mutter hat diesen Song natürlich nie gehört und hätte ihn auch nicht gemocht."
Auf die Frage, was für sie Anerkennung und Erfolg bedeuten, die sie doch zweifelsohne in hohem Maße genieße, antwortete Roy, es gebe glücklicherweise Welten, in denen Anerkennung nicht das einzige Barometer für Brillanz oder menschlichen Wert sei. "Ich kenne und schätze viele Krieger, Menschen, die weitaus wertvoller sind als ich selbst, die jeden Tag in den Krieg ziehen, obwohl sie im Voraus wissen, dass sie scheitern werden." Wichtig sei, und das gelte auch für sie, weiterzumachen. Denn: "Ich bin jemand, der mit Niederlagen lebt. Es geht nicht um mich, es geht um die Dinge, über die ich geschrieben habe - diese wurden schon oft zerschlagen." Sie spielte damit auf die vielen Aspekte indischer Politik und Gesellschaft an, die sie in ihren politischen Essays so scharfsinnig kritisiert hat und die weiterbestehen - ökologisch verheerende Staudämme, die Kaschmir-Politik der Regierung, die Nuklearbewaffnung, das Kastenwesen. "Aber sollten wir schweigen, weil nichts passiert? Nein!".
Zum Schluss las Roy aus einem Brief vor, den sie vor vielen Jahren an eine Freundin geschrieben hat. Eindrücklich formuliert sie darin ihr politisches und persönliches Credo: "Sich niemals an die unaussprechliche Gewalt und die vulgäre Ungleichheit des Lebens um einen herum zu gewöhnen. Niemals das Komplizierte zu vereinfachen oder das Einfache zu verkomplizieren. Stärke zu respektieren, niemals Macht. Vor allem aber zu beobachten. Zu versuchen, zu verstehen. Niemals wegzuschauen." ANDREAS ECKERT
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