Seit den 1990er Jahren gewinnt eine neue Wissenschaft des menschlichen Verhaltens ungeheuer an Dynamik: die kognitive Neurowissenschaft. Ihr Ziel ist die Erforschung des Gehirns, um geistige Pathologien wie Depressionen oder Schizophrenie zu behandeln, aber auch das Lernen oder die Kontrolle von Emotionen zu verbessern. In seinem faszinierenden Buch geht Alain Ehrenberg der Frage nach, ob diese Wissenschaft das »neue Barometer« unseres Verhaltens und Lebens geworden ist. Hat sie den Platz eingenommen, den früher die Psychoanalyse innehatte? Ersetzt der »neuronale« Mensch nun den »sozialen« Menschen?
Ehrenberg zeigt, dass die kognitive Neurowissenschaft und die mit ihr verbundene Verhaltensökonomie ihre wachsende Autorität nicht nur aus ihren wissenschaftlichen Ergebnissen, sondern auch aus der Einschreibung in ein wichtiges soziales Ideal bezieht: das eines Individuums, das seine Unzulänglichkeiten durch Nutzung seines »verborgenen Potentials« in verwertbare Vermögen umzuwandeln vermag. Diese neue Wissenschaft vom Verhalten ist für Ehrenberg daher die Echokammer unserer zeitgenössischen Ideale der Autonomie.
Besprechung vom 24.04.2019
Bei psychischen Problemen bitte zum kognitiven Umbau fortschreiten
Der Soziologe Alain Ehrenberg beschließt seine Trilogie über die Anforderungen an individualistische Lebensformen in der heutigen Gesellschaft
Der Aufstieg der Neurowissenschaften hat in den letzten Jahrzehnten die Vorstellung popularisiert, der Mensch sei identisch mit seinem Gehirn. Die bunten Bilder, mit denen Forscher die Aktivitäten verschiedener Hirnregionen bei ihren Probanden aufzeichnen, verführen regelmäßig zu Aussagen, die fast alle menschlichen Eigenschaften, Verhaltensweisen und Gefühle erklären wollen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die neurowissenschaftlichen Disziplinen seit einiger Zeit als Kandidaten für den Gesamtentwurf einer neuen Anthropologie gelten, die den Menschen als denkendes, handelndes und fühlendes Wesen allein ausgehend von seiner neuronalen Tätigkeit begreifen will.
In seinem neuen Buch geht es dem Soziologen Alain Ehrenberg darum, diesen hegemonialen Anspruch der kognitiven Neurowissenschaften im Bereich psychischer Erkrankungen auf neue Weise zu erhellen. Dabei grenzt er sein Unternehmen von zwei Tendenzen ab: zum einen von der erkenntnistheoretischen Kritik am neurowissenschaftlichen Reduktionismus, der zudem oft als Ausdruck einer "Biomacht" und Form der sozialen Kontrolle verstanden wird, zum anderen aber auch von der häufig kritiklosen Übernahme von Methoden oder Ergebnissen der kognitiven Neurowissenschaften im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften.
"Die Mechanik der Leidenschaften" ist der abschließende Teil einer Trilogie, die 1998 mit "Das erschöpfte Selbst" (dt. 2004) begann und mit "Das Unbehagen in der Gesellschaft" (dt. 2011) fortgesetzt wurde. Ehrenbergs primäres Anliegen ist das Aufzeigen der Dilemmata des modernen Individualismus in kapitalistischen Gesellschaften, wie sie für ihn bei psychischen Erkrankungen und deren Behandlung manifest werden. Dabei gilt ihm die Depression als Chiffre des modernen Persönlichkeitsttypus, der beständig unter der Anforderung steht, die Verantwortung für sein eigenes Leben im zwischenmenschlichen Bereich zu übernehmen.
Im Gegensatz zur Epoche der Freudschen Psychoanalyse stelle sich das Problem deshalb nicht mehr in den Begriffen der Triebunterdrückung oder -regulierung, die durch kulturelle oder religiöse Verbote notwendig sind. In der vater- und führerlosen Gesellschaftsordnung verpflichteten vielmehr die neuen sozialen Normen das Individuum zur souveränen Selbstbestimmung und zur Ausbildung von Fähigkeiten, die nicht mehr durch Disziplin oder Gehorsam, sondern durch Motivation, Eigeninitiative oder kommunikative Kompetenz bezeichnet werden. Wer antriebslos, müde und erschöpft in sich verharrt, scheitere an den Anforderungen dieses "Individualismus der Befähigung" und werde zum Fall für die Therapie.
Nachdem die ersten beiden Bände sich dem Ziel verschrieben hatten, diesen Wandel in einem Vergleich der französischen und der amerikanischen Gesellschaft zu begreifen, versucht der dritte Band zugleich eine Art Synthese und Weiterführung mit Blick auf die Autorität der Neurowissenschaften bei der Behandlung von psychischen Krankheiten. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem von Donald Hebb 1949 eingeführten Konzept der synaptischen Plastizität zu, das die anatomische oder funktionelle Veränderbarkeit von Snyapsen, Nervenzellen oder ganzen Hirnarealen infolge von Entwicklungs- oder Lernprozessen bezeichnet. Den Erfolg dieses Konzepts sieht Ehrenberg überwiegend in einer mit ihm einhergehenden Überhöhung des sozialen Ideals der Autonomie. Die Lehre aus der Hirnforschung laute, dass das Gehirn stets die nötigen Ressourcen bereitstellt, mit denen das Individuum eine Lösung für seine Probleme finden kann, selbst im Fall von schweren psychischen Erkrankungen wie narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, Borderline-Zustände, Autismus oder Schizophrenie.
Aus den in der Leistungsgesellschaft zunächst als defizitär abgestempelten Kranken würden nun "befähigte" Individuen, die im Zeitalter der offenen Psychiatrie gehalten sind, selbst die Kontrolle über ihre Krankheit zu übernehmen. Das seit den achtziger Jahren eingeführte Verfahren der "kognitiven Remedition", das im Fall von ambulant behandelten Psychosen eingesetzt wird, schreitet etwa von der bloßen Korrektur von Symptomen zu einer zunehmend selbstbestimmten "kognitiven Neustrukturierung" der Patienten durch mit dem Therapeuten besprochene Verhaltenspläne und -übungen fort.
Ehrenberg übersieht dabei nicht die Automatisierung dieser Therapien, mit der etwa im "affective computing" psychotische Patienten schrittweise emotionale und soziale Fähigkeiten wiedererlernen sollen. Doch geht es ihm darum, alle diese Verfahren letztlich in einen großen Paradigmenwechsel einzureihen, der die alte Vorstellung von psychischer Krankheit als Defizit, das nur im institutionellen Gefüge der psychiatrischen Anstalt oder der Privatpraxis zu behandeln ist, überwindet. Die neue individualistische Konzeption begreife demgegenüber Krankheit letztlich nicht nur als Befähigung zur Selbstheilung, sondern auch im Sinne eines "verborgenen Potentials", das das Individuum nicht mehr als krank, sondern als kreativ und sozial wertvoll erscheinen lässt.
Wie bereits in den beiden vorangegangen Büchern seiner Trilogie fällt es nicht leicht, Ehrenbergs eigentlichen Ansatz und sein soziologisches Fazit auszumachen. Wo das Buch den Erfolg der Neurowissenschaften im Rahmen einer sozialphilosophischen Zeitdiagnose zu erklären sucht, begnügt es sich allzu sehr mit einem referierenden Rückgriff auf Forschungsliteratur oder populäre Darstellungen. So gelten Ehrenberg die Fallgeschichten von Antonio Damasio und Oliver Sacks als heldenhafte Porträts von "exemplarischen Gehirnen", die durch "Mut und Erfindungsgeist der Welt eine individuelle Originalität gegenüberstellen, indem sie ihr Leid in eine gesellschaftlich akzeptable Lebensform verwandeln". Im selben Modus referiert der Autor die derzeit modische autobiographische Betroffenheitsliteratur von der amerikanischen Ostküste wie Siri Hustvedts "Geschichte meiner Nerven", um auch hier einen Beleg für seine Thesen zu finden: "Der Rückhalt in der Grammatik des ,ich' ist das Mittel, durch das sie Besitz von sich selbst als Person ergreift."
Der Hang zu seiner Individualisierungsthese verstellt so letztlich den Blick auf die Zusammenhänge zwischen kollektiven Vorstellungen und der wissenschaftlichen und therapeutischen Praxis. Anstatt sich für die konkreten und subjektiven Erfahrungen von Patienten, Ärzten und Angehörigen im Umgang mit dem "Befähigungsindividualismus" zu interessieren, wird dieser geradezu als soziales Schicksal postuliert. Ehrenberg betreibt in diesem Sinne nicht Anthropologie, sondern eher eine Art von Pseudoethnographie, die therapeutische Übungen gelegentlich als "Rituale" zur Wiederherstellung des moralischen Selbst und die Neurowissenschaftler als "Stamm" tituliert. Damit werden die mannigfachen und sehr realen Probleme, die seit der Einführung der kognitiv-neurowissenschaftlichen Behandlungsformen im Zeitalter der offenen Psychiatrie auf dem Tisch sind, weder einer Analyse noch einer Kritik zugeführt.
ANDREAS MAYER
Alain Ehrenberg:
"Die Mechanik der
Leidenschaften". Gehirn, Verhalten, Gesellschaft.
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 429 S., geb.
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