Die literarische Sensation aus Spanien - zwischen rohem Realismus und größter Zärtlichkeit
In einen gefallenen Engel, einen Herointoten auf den Straßen von San Blas, verliebt sich die Erzählerin dieses Romans zum ersten Mal. Sie, die im Körper eines Jungen aufwächst, und nur hinter verschlossenen Türen kurze Momente gestohlenen Glücks mit Rouge und Lippenstift ihrer Mutter hat, zeichnet ihren Weg nach: Beginnend in einem Arbeiterviertel Madrids, das nicht weiter entfernt sein könnte von der schillernden Hauptstadt Spaniens, deren Nachtleben in den Achtzigern ein Zentrum der queeren Szene wird. Während sie aufwächst, diskutieren Familien unironisch, ob ein drogensüchtiger oder ein homosexueller Sohn das schwerere Schicksal sei, und so sind es die Außenseiter:innen - triumphale Nymphen und wilde Chimären -, die ihr zu Wegbegleiter:innen werden. Zwischen Armut und Gewalt, politischer Klassenunterdrückung und Momenten heimlicher Solidarität wird sie langsam, quälend langsam, zu der, die sie immer schon war.
»Lesen Sie Alana Porteros Die schlechte Gewohnheit! Er zeigt, wie viel Leid und Schmerz daraus resultiert, im falschen Körper geboren worden zu sein - und wie gefährlich es sein kann. « Pedro Almodóvar
Die schlechte Gewohnheit ist eine umgekehrte Heldenreise, verfasst in gleißend schöner Sprache, in der schillernde Außenseiter sich zu einer Gemeinschaf formen, die das Überleben möglich macht. Erzählt mit dem Klassenbewusstsein von Annie Ernaux, dem rohen Realismus von Shuggie Bain, der Lust am Grenzensprengen von Virginie Despentes und dem Sinn für Außenseiterfiguren von Pedro Almodóvar, ist der Roman gleichermaßen erschütternd wie heilsam.
Besprechung vom 27.08.2024
Der Innendruck des Außendrucks
Auch Pedro Almodóvar hat's gefallen: Alana S. Portero erzählt von einem Mädchen im Jungenkörper
Zu den vielen Konflikten gegenwärtiger Debatten gehört die Rede von (und damit auch die Gegenrede zu) "queerer" Kultur. Die Frontlinien verlaufen ungefähr so: Das LGBTQIA-Kollektiv reklamiert mehr Rechte, Sichtbarkeit und Repräsentanz und erinnert damit an die ehrwürdige Idee, dass sich die Qualität einer demokratischen Gesellschaft unter anderem darin äußern könnte, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht und welche Räume der Mitsprache sie schafft. Manche, vielleicht sogar viele Menschen solidarisieren sich mit diesen Forderungen, besonders in großstädtischen Milieus. Andere, vor allem in ländlichen Regionen, finden die Forderungen abwechselnd übertrieben, grundlos, nervtötend oder anstößig. Häufig wissen sie nicht einmal, was LGBTQIA überhaupt heißt.
Hier kommt etwas ins Spiel, das dem Thema weit vorausgeht, nennen wir es Störfaktor: Von sexuellem Begehren öffentlich zu reden ist häufig schambesetzt; von Begehren vertraulich zu reden kann es ebenfalls sein. Schon Wortwahl und Benennung sind Entscheidungen, die Mut voraussetzen (oder Scheu signalisieren). Bei näherer Betrachtung, fern aller Parolen, gehört das angeblich gesellschaftspolitische Thema wieder jedem Einzelnen. Vielleicht kommt daher die Heftigkeit des Ressentiments gegen queere Menschen? Man könnte vermuten, vieles an latenter Aggressivität gegenüber den sexuellen Präferenzen anderer sei nach außen gewendete Scham, die sich bis zum Ekel und gewalttätigen Angriffen steigert.
Die große Qualität des Romans von Alana S. Portero, geboren 1978 in Madrid, ist die eindringliche Darstellung dieses Konflikts, genauer: von Innendruck und Außendruck. Beides belastet ihre Heldin, die im Madrider Arbeiterviertel San Blas aufwächst und sich, seit sie über ihre Empfindungen nachdenken kann, fremd im eigenen Jungenkörper fühlt. Friedrich Schlegel hat einmal geschrieben, Kunst beruhe auf der Teilnahme an fremden Existenzen. Jeder Schritt der Heldin folgt aus dem vorhergehenden, jede seelische Not ist plausibel - hinreißend ist die Beschreibung des Elternhauses, in dem sich Liebe und Unverständnis die Waage halten -, und weil die Autorin auch Leser erreicht, die dem Thema fernstehen mögen, folgt man atemlos. So ist das also. Der Innendruck besteht aus Scham, Angst und Selbsthass; der Außendruck aus Spott, Ignoranz und Verachtung bis hin zur Gewalt. Wie soll ein einzelner Mensch das bewältigen? Die Frage legt einen Schleier der Melancholie - nicht des Selbstmitleids - über das Buch.
Aufgebaut wie ein Bildungsroman, schildert "Die schlechte Gewohnheit" einen langen, oft steinigen Weg - die geheime Faszination für Frauen und Frauenkleidern, für Schminke und Crossdressing, das ewige Versteckspiel, die erste Liebe zu einem schwulen älteren Jungen und die Ausflüge vom engen Arbeiterviertel in das Madrid der sexuellen Befreiung der Post-Franco-Zeit mit seiner sehr spanischen Mischung aus Libertinage und Prekariat, ein Schmuddel-Hedonismus ganz eigener Art. Aufmerksam für die sprechenden soziologischen Details, ist die Autorin ihrer Heldin auch psychologisch dicht auf den Fersen. Immer wieder findet sie überraschende, wahrhaft befreiende Bilder für deren Phantasien und folgt dem enervierenden Auf und Ab bei der Suche nach Erfüllung.
Erfüllung ist ein großes Wort für etwas Unerreichbares, das weiß die Protagonistin selbst. Schon Kontrolle abzugeben und nicht unter ständiger Selbstbeobachtung zu leben wäre eine Erleichterung, aber die Rückschläge sorgen dafür, dass die Hoffnungen klein bleiben: "Sobald ich wusste, was mit mir los war, hatte ich mir den Fatalismus der trans Personen angeeignet und mich selbst davon überzeugt, dass ich mein Leben in Einsamkeit verbringen würde." Und: "Wenn ich so etwas wie ein Leben haben wollte, musste es weitab von den Blicken der Normalität stattfinden, im Verborgenen, wo die Gefahr durch die gewaltsame Korrekturmaschine des Alltags möglichst gering war."
"Die schlechte Gewohnheit" erzählt, wenn die Anzeichen nicht trügen, eine weitgehend autobiographische Geschichte - schwierige Kindheit und Jugend, Gewöhnung ans Außenseitertum, Studium der Mediävistik, zehn Jahre als Buchhändlerin, schließlich zurück ins Nest der Eltern, deren Ratlosigkeit so groß bleibt wie ihre Liebe. Nicht jede Seite hat die Eindringlichkeit dieser Szenen, nicht jedes Bild sitzt, und es gibt Passagen, in denen die Autorin wie der schlaue analytische Essay klingt, den man über ihren Roman schreiben könnte. Aber das ist nur ein Knirschen, das vorübergeht; man liest das Werk in einem Rutsch. Alana Portero hat ein poetisches Buch von strahlender Unabhängigkeit geschrieben, und die Übersetzerin Christiane Quandt ist ihr Zeile für Zeile ebenbürtig. PAUL INGENDAAY
Alana S. Portero:
"Die schlechte
Gewohnheit".
Roman.
Aus dem Spanischen
von Christiane Quandt. Claassen Verlag, Berlin 2024. 240 S., geb.,
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