Besprechung vom 21.05.2025
Aus der Heißzeit ist Eiszeit geworden
Isolierte Gemeinschaften in einer gedächtnislosen Zukunft: Amira Ben Saouds Romandebüt "Schweben"
Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Statt in permanenter Verbundenheit, wie sie die Globalisierung zunächst brachte, leben die Menschen nun in abgeschotteten Siedlungen. Was außerhalb liegt, ist ungewiss. Für die Bewohner im Inneren ist nur klar: Wer es wagt, die Grenze zu überschreiten, geht in den sicheren Tod. Denn warum sollten es die anderen Siedlungen anders handhaben als man selbst? Eindringlinge werden sofort liquidiert. Und trotzdem: "Es gab auch Verrückte, die die Siedlung freiwillig verließen, weil sie sich von haltlosen Gerüchten, dass es anderswo besser sei, dazu verleiten ließen." Auch wenn sich vieles verändert hat auf ihrer Welt, unterscheiden sich die Menschen in Amira Ben Saouds Debütroman "Schweben" in ihrer Neugier, ihren Trieben und Begehrlichkeiten nicht von uns. Und auch nicht darin, wie sie offensichtliche Warnsignale übersehen und ganz aufs eigene Überleben fokussiert sind.
Der Klimawandel ist in Amira Ben Saouds Dystopie "Schweben", die viele Jahrhunderte in der Zukunft spielt, längst vollzogen. Die große Hitze ist vorüber. Jetzt herrscht eine beklemmende Kälte, die Sonne scheint nur selten. Aber über das Davor ist - ebenso wie über das Draußen - nicht viel bekannt, "denn eigentlich war es verboten, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen". Die Vergangenheit muss derart unerträglich gewesen sein, dass jegliche Erinnerung daran ausgemerzt werden soll. Nur so viel ist klar: Die große Hitze hat zu verheerenden Kriegen geführt, die nicht viele Menschen überlebt haben. Nach Jahrzehnten ist aus der Heißzeit eine Art Eiszeit geworden. Die Überlebenden haben sich über die noch bewohnbaren Gegenden der Erde verteilt und entscheiden "dass es besser war, in kleinen Einheiten organisiert zu sein und nicht zu wachsen".
Das heißt: Ein Streben nach mehr ist verboten. Genauso wie Gewalt. Diese Regeln sollen das Überleben sichern. Einmal schon war die Menschheit kurz davor, sich selbst auszulöschen. Jetzt soll es besser laufen. Doch was passiert, wenn Instinkte unterdrückt werden? Über allem liegt eine beklemmende Ruhe, jene Form von Ruhe, die herrscht, bevor es zur Explosion kommt. Oder wie einer der Protagonisten im Roman sagt: "Es wird immer kurz besser, bevor es ganz schlecht wird."
Es sind die ganz großen Themen unserer Zeit, die Ben Saoud, 1989 im niederösterreichischen Waidhofen an der Thaya geboren, in diesem dicht erzählten und fesselnden Debüt verhandelt: Klimakatastrophe, Migration, Identität. Was wird aus unserer Welt, wenn wir sie weiter in den Abgrund treiben, die Signale nicht sehen und hören wollen? In jedem Jahr werden Hitzerekorde gebrochen, hinzu kommen verheerende Überschwemmungen, Stürme, Brände, oft direkt vor unserer Haustür. Und was passiert mit Menschen, die durch die Folgen der klimatischen Veränderungen auf unserem Planeten ihr Zuhause verlieren? Wohin gehen sie? In Europa werden gerade wieder Zäune gebaut, um Einwanderung zu verhindern. Aber was, wenn Europa unbewohnbar wird?
Diese Frage behandelt auch die mitreißende Serie "Families Like Ours" des dänischen Dogma-Mitbegründers und Oscar-Preisträgers Thomas Vinterberg, die derzeit in der ARD-Mediathek abrufbar ist. Es ist, als erzählte er die Vorgeschichte zu Ben Saouds "Schweben": vom Moment, an dem Europa beginnt auseinanderzubrechen und die Welt an den Rand ihrer Resilienz gebracht wird. Wen diese Serie gefesselt hat, der wird auch "Schweben" nicht aus der Hand legen können. Es ist faszinierend, wie sich ein unsichtbarer Faden entspinnt zwischen den Geschichten und das Gedankenexperiment (wie Vinterberg seine Serien-Idee nennt) bei Ben Saoud in einer fernen Zukunft weitergesponnen wird.
Wie definiert man Heimat, Kulturerbe und Identität, wenn es keine Vergangenheit mehr gibt? Es geht in "Schweben" um das Erinnern und Vergessen, um Gewalt und Grenzüberschreitungen, Realität und Realitätsverlust, Kontrolle und Kontrollverlust. Die Protagonistin des Romans steht in der ständigen Spannung zwischen diesen Polen. Sie verdient ihr Geld damit, sich auf Bestellung in andere zu verwandeln, in die Rolle solcher Frauen zu schlüpfen, über die irgendjemand nicht hinwegkommt. Sie nimmt deren Identität an und entfernt sich so mehr und mehr von sich selbst. Denn wer bin ich eigentlich, wenn ich ständig jemand anderen spiele? An ihren eigenen Namen kann sie sich längst nicht mehr erinnern. Aber es ist auch ein Roman über die Liebe und ihre Unmöglichkeit, über die Frage, warum man in unglücklichen Beziehungen verweilt und den glücklichen nicht traut.
Zu Beginn übernimmt die Protagonistin einen neuen, möglicherweise letzten Auftrag. Aber diesmal ist etwas anders. Vieles läuft plötzlich aus dem Ruder, im Leben der Protagonistin, aber auch in der Siedlung, in der sie lebt. Doch was ist wahr, was Einbildung? Einer der vielen schlauen Sätze in diesem fesselnden Gedankenexperiment lautet: "Mit dem Unmöglichen darf man sich nicht einfach so arrangieren. Das ist gefährlich. Und es geht immer schlecht aus."
Amira Ben Saoud, die Chefredakteurin des Popkulturmagazins "The Gap" und Kulturredakteurin beim "Standard" war, hat in einem Interview die Hoffnung geäußert, ihr Debütroman möge die Leser nicht kaltlassen. Auch wenn man die Kälte, die sich durch den Körper der Protagonistin und das Buch zieht, förmlich spüren kann, sei verraten: Dieser Roman lässt ganz bestimmt nicht kalt. AMIRA EL AHL
Amira Ben Saoud: "Schweben". Roman.
Zsolnay Verlag,
Wien 2025.
192 S., geb.
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