"The shadow of a bird moved across the hill; he could not see the bird." Er kann nur den Schatten sehen, weiß aber, da war mit Sicherheit ein Vogel. In Michaels Buch geht es um Erkenntnis jenseits des Sichtbaren, innige Verbindungen, Zusammenhalt auch über den Tod hinaus, um Erinnerungen, mystische Erfahrungen, auch solche, die der Naturwissenschaft zu widersprechen scheinen.
Der, von dem zu Beginn die Rede ist, liegt 1917 in einem französischen Schützengraben und kehrt dann versehrt an Leib und Seele zu seiner Frau nach England zurück. Mit ihm beginnt der vielstimmige Generationen-Roman, der später vorwiegend Frauen ins Zentrum rückt.
Von einem Familienroman, der sich über mehr als ein Jahrhundert von 1910 bis 2025 erstreckt, erwartet man epische Breite und farbige Charakterzeichnung. Nichts davon in Anne Michaels Roman "Held". Sie bricht mit dem Genre. In der deutschen Übersetzung ist der Roman unter dem Titel "Zeitpfade" im Berlinverlag erschienen. 2024 war er auf der Shortlist für den Booker Prize.
Michaels zerhackt die Chronologie, bietet Bruchstücke, Gedankenfetzen, schöne Bilder, lyrische Träumereien und naturwissenschaftliche Fragmente, Pathetisches und Gewöhnliches, preziöse Sentenzen und poetische Bilder. Kaum Handlung, viel Betrachtung. Zusammengehalten wird das durch die Lebensläufe und Erfahrungen der Figuren, die mehr oder weniger lose miteinander verbunden sind. Am Rand tauchen historische Figuren auf: der Physiker Ernest Rutherford und die Curies, ein spiritistisches Medium.
Einerseits bewunderungswert, wenn Michaels in Bildern erzählt. Andererseits sperrig und manchmal nicht nachvollziehbar in ihren knappen philosophischen Einlassungen, von denen man oft nicht weiß, wem man sie zuordnen soll: den Figuren oder der Autorin?
Ein gemischtes Vergnügen.