Ein mahnendes Beispiel für die Politik in Europa
Mussolinis Untergang - packend erzählt
»Das Buch des Krieges« erzählt vom Zusammenbruch des faschistischen Regimes in Italien und vom Untergang eines Diktators, der ein ganzes Land in den Abgrund stürzt. Ein magistrales, unvergleichliches Werk. Als Benito Mussolini im Juni 1940 vom Balkon des Palazzo Venezia aus »die Stunde der unwiderruflichen Entscheidungen« verkündet, ist das der Anfang vom Ende: Der unaufhaltsame Niedergang des Faschismus hat begonnen. Mitreißend und brillant schildert der Roman den Kriegsverlauf an den Fronten: von Afrika bis Griechenland, vom Balkan bis zu den Alpen, wo die italienischen Armeen auch Engländern und Franzosen gegenüberstehen. Doch die verhängnisvollen Entscheidungen und katastrophalen Niederlagen häufen sich - und die Welt lässt sich von Benito Mussolini nicht mehr täuschen. Glänzend rekonstruiert Antonio Scurati Mussolinis erschreckenden Wahn und seinen Niedergang. »Das Buch des Krieges« ist ein großer literarischer Wurf und ein Mahnmal gegen den Faschismus.
Besprechung vom 12.10.2024
Der unaufhaltsame Abstieg des Benito M.
Im vierten Teil seiner Romanbiographie "M. - Das Buch des Krieges" beleuchtet Antonio Scurati den Dünkel, der zum Fall führt.
Von Christiane Pöhlmann
Von Christiane Pöhlmann
Es ist beinahe wie weiland bei Harry Potter: Am 16. Oktober erscheint die italienische Originalausgabe des neuen Bandes aus Antonio Scuratis Zyklus "M", und nur drei Tage später folgt die deutsche Fassung, für deren Anfertigung Übersetzerin Verena von Koskull diesmal noch Michael von Killisch-Horn ins Boot geholt hat. Gezeigt wird jedoch kein aufstrebender Hogwarts-Schüler, sondern ein Mann auf dem Gipfel seiner Macht, dessen Name im Titel nicht genannt wird. Und statt echter Magie gibt es jede Menge faulen Zauber.
"M" soll dem Vernehmen nach auf fünf Bände angelegt sein. Ganz klassische Tragödie. Die Letter M entpuppt sich zunehmend als eine vielseitig verwendbare Chiffre. Im ersten Band beispielsweise für "Marionette", als die viele Mussolini gesehen haben, eine gefügige Puppe, die sich leicht vor den eigenen Karren spannen lässt. Beim Marsch auf Rom hätte er noch gestoppt werden können, das Militär stand bereit, der König indes zauderte. Im zweiten Band böte sich "Mythos" an, denn Mussolini hat die Strippen gekappt, ist selbst zum Puppenspieler geworden, verwandelt alle um ihn herum in seine Marionetten, seine Speichellecker und Handlanger und sich selbst in einen Mythos. Dieser soll nun, nachdem sich Mussolini an die Seite Hitlers gestellt hat (erzählt in Band III), im vierten Teil "mit der gleichen Brutalität zerstört" werden, mit der er zuvor geschaffen worden ist. Mussolinis Aufstieg wäre, wie oft in der Geschichte, aufhaltsam gewesen. Der Abstieg nicht. Für den Weg bergab sorgt das Militär, das eigene marode und das englische überlegene. "Heute wie damals, am Anfang wie am Ende."
Gleich der Einstieg zeigt die Fallhöhe, die im faschistischen Italien zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht. Das Flieger-Ass Italo Balbo startet in Afrika einen Angriff gegen den Feind. In seiner Siegesgewissheit hat er etliche Honoratioren an Bord. Doch bevor er den ersten Schuss abgibt, wird er von den eigenen Leuten vom Himmel geholt. Mussolini will Krieg führen, ohne über fähige Männer oder Ausrüstung zu verfügen. Dass er seiner eigenen Blendung aufsitzt, zeigt sich bei einer Truppenparade vor dem Russlandfeldzug. Er nimmt "die zerschlissenen Sommeruniformen vieler Soldaten, die kaputten Schuhe, die über das Straßenpflaster marschieren, die klapprigen, verrosteten Mannschaftswagen" schlankweg nicht zur Kenntnis und meint, eine Prachttruppe loszuschicken.
Damit steht er nicht allein. Italienische Generäle werden grundsätzlich als eitle Gecken mit "gefärbten Augenbrauen" gezeichnet. "Schmerbäuchig" sind sie, "welk, geschminkt, mit Flitter und Borten behängt." Die Entmystifizierung Mussolinis geht den Weg der Verhohnepiepelung, der Duce samt seinen Getreuen wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Allesamt werden sie als Figuren aus einer Schaueroperette vorgeführt, ohne dass es je verharmlosend wirkte. Das liegt vor allem am Leid der Soldaten, die sinnlos in den Tod getrieben werden, was immer wieder mit guten Bildern und mit enormer Parteilichkeit geschildert wird. Das liegt an weiteren beeindruckenden Szenen, so die mit dem Mord an jüdischen Menschen in Babyn Jar. Daher ist diese Romanbiographie bei aller Akribie keine Militärgeschichte. Ein Manko, bereits aus den vorherigen Bänden bekannt, bleibt jedoch das Ausblenden des faschistischen Alltags. M - das ist auch als "Mittelpunkt" zu lesen: Mussolini und seine Trabanten erhalten eine Einzelstimme, nicht aber einfache Menschen, denen dieser Dunstkreis versperrt ist. Immerhin findet Antonio Scurati für das Tun dieser Menschen schöne Bilder. "Die von ihnen überfallene Welt gleicht der am ersten Schöpfungstag" - so beschreibt er die Invasion eines menschenleeren Ortes.
Generell beweist Scurati eine stilistische Bandbreite, die jeder rein faktischen Darstellung fremd ist. Eine Luftschlacht kann bei ihm durchaus an Kommentare bei einem Videospiel erinnern: "Da ist es, das Kreuzfeuer, ganz plötzlich, ganz nah. Verdammtes Bug-MG. Das Ziel, konzentrier dich auf das Ziel! Nimm es ins Visier, es wird größer, zu schnell, halten, na bitte, halten, ruhig, ganz ruhig."
Hitler, der einstige Schüler und jetzige Meister, gibt im neuen Band den Sparringpartner für Mussolini, das Verhältnis wird grotesk überzeichnet. "Was zählt, ist, dem deutschen Führer eins auszuwischen", schließlich ist Mussolini mit den deutschen Erfolgen im Zweiten Weltkrieg nur noch "ein verletztes Tier, benommen vom Stachel des Minderwertigkeitskomplexes gegenüber dem Verbündeten, der sich tief in sein Fleisch bohrt." Trotzig reagiert er auf Hitler und seine Art, sich bei Reden in "autistische Rage" zu steigern. Die Vernunft schweigt, und selbstverständlich stellen alte Weggefährten ihn nicht zur Rede, reichen sie ihren Rücktritt nicht ein, denn dies "würde sowohl den beruflichen Tod bedeuten als auch, dass man Italien einem bereitwilligeren und weniger skrupulösen Kollegen" überlassen würde. Daher lieber "den Mund halten und es durchstehen. Wie immer versinkt die Feigheit in Schweigen." Die Selbstüberschätzung war ein grundsätzliches Charakteristikum in faschistischen Kreisen, das Duckmäusertum aller Ordensträger vom einzigen Mann an der Spitze gewollt.
Ein Kritikpunkt ist hier sicher die Handhabung des Gesamtstoffes. Scurati verzichtet auf geschickte Rückblenden, die den Mussolini aus dem ersten Band durchschimmern ließen und damit auch den charakterlichen Verfall - Macht korrumpiert - nachvollziehbar machten. Es empfiehlt sich also nicht, bei diesem Band einzusteigen. Ansonsten geht Scurati wie gehabt vor, unterfüttert die Fiktion nach jedem Kapitel mit authentischen Dokumenten.
Als es 1943 auf den Großen Rat zugeht, der den Diktator stürzen soll, ist sein Realitätsverlust nicht länger bloß als Chiffre, sondern ganz konkret zu verstehen. "Wer sind all diese schlecht gekleideten Leute?", fragt sich Mussolini beim Anblick von neun der höchsten Vertreter seines Regimes. Er scheint allen Ernstes "Mühe zu haben, sie zu erkennen". So lässt er sich zur Einberufung des Rats hinreißen und hält eine Rede, "als würde er sich, gespalten, dem Urteil ausgesetzt, selbst von außen betrachten, als Erster skeptisch gegenüber seinen eigenen Worten. Er wirkte eher traurig als wütend, als hätte eine ungeheure, untröstliche Trauer über das Elend der Menschen und der Welt ihn an der Kehle gepackt. Was für ein Jammer, pfui Teufel. Haltet den Wagen an, lasst mich aussteigen." Ganz so einfach wird es nicht werden: Es folgen ja noch die Republik von Salò, sein Tod und die öffentliche Zurschaustellung seiner Leiche in Mailand. Darüber wird wohl dann der fünfte und letzte Band erzählen.
Bisher haben literarische Werke Teilaspekte aus der Zeit des italienischen Faschismus festgehalten. Alberto Moravia führt in "Die Gleichgültigen" das dekadente Bürgertum vor, mit dem sich kein Staat machen, geschweige denn ein entschlossener Mann wie Mussolini aufhalten lässt. Antonio Pennacchi fängt in "Canale Mussolini" das Hinübergleiten vom Sozialismus zum Faschismus in ärmeren Schichten ein, die Romane zur Resistenza sind Legion. Scurati versucht erstmals, den Weg Mussolinis von der treibenden Kraft zum ratlosen Spielball nachzuzeichnen. Das Psychogramm des Aufsteigers Mussolini ist ihm besser gelungen als das des Mannes, der an seiner Macht und seinem Mythos scheitert. Lesenswert bleibt es dennoch.
Antonio Scurati: "M. Das Buch des Krieges". Roman.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull und Michael von Killisch-Horn. Klett-Cotta, Stuttgart 2024. 672 S., geb.
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