Besprechung vom 27.03.2025
Raumstation Wintersonne
Zynisch angehaucht vor der ökologischen Katastrophe: Asja Bakics Erzählungsband "Leckermäulchen"
Die Dinarische Primel scheint eine vollkommene Pflanze zu sein. Gewöhnt an den Karst der Dinarischen Alpen, benötigt sie nur wenig Erde und findet selbst in kaltem Boden Feuchtigkeit. Dabei ist Primula kitaibeliana, wie der botanische Name lautet, mit ihren rosaroten Blüten und den dichten Härchen ausgesprochen hübsch. So jedenfalls denkt es sich die junge Erzählerin, als sie an der Hand ihrer Schwester durchs Gebirge wandert. Doch sie kann sich an den schönen Anblick nur erinnern. Zwanzig Monate zuvor hat sie ihr Augenlicht verloren, von einem Tag auf den anderen war sie in Dunkelheit gehüllt. Nun versucht sie, die Pflanze zu ertasten und zu erschmecken. Die klebrigen Härchen verfangen sich an ihrem Gaumen und bleiben dort haften - ein fast epiphanisches Erlebnis: "Ich hatte beinahe spüren können, wie es in meinem Rachen blüht."
Vielleicht ist die Dinarische Primel so etwas wie die Wappenpflanze von Asja Bakics neuem Erzählungsband "Leckermäulchen". Nicht nur als Bild für eine intensive sinnliche Erfahrung, die sich als Fluchtpunkt in fast allen der elf Geschichten finden lässt, sondern auch als Motiv der Verschwisterung von Schönheit und Kälte. Vor allem aber verweist sie auf die Form des Erzählens, die Bakic kultiviert. Auf die kargen dystopischen Szenerien etwa, deren Erfahrungsweisen, wie in einem Laboraufbau, oft auf bestimmte Wahrnehmungsweisen konzentriert sind. Auf die Dramaturgie der Texte, die mit vermeintlich hübschen Dingen beginnen können, um dann in absurde Welten und in Dunkelkammern der Psyche abzudriften. Oder auf die Sprache, die nicht selten einfach wirkt, sich in der Folge aber verästeln kann.
Wie schon in ihrem ersten Erzählungsband, "Mars", greift die 1982 in Tuzla geborene Autorin in beide Richtungen der Zeitachse aus. Mal entwirft sie Orte in der Zukunft, mal spielt sie mit Kindheitserinnerungen oder lässt ihre Figuren gleich mithilfe einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen. In ihre Beschreibungen lagert sie gern Dialoge ein - eine Mischung, die Alida Bremer in ihrer Übersetzung geschickt nachbildet.
Am intensivsten gelingt Asja Bakic das Wiederbeleben der Gedächtnisspuren in der Erzählung "1998", die sich aus der eigenen Biographie speist. Eine junge Frau verbringt den Sommer in einem Feriencamp, das für die Kinder der Angestellten der bosnisch-herzegowinischen Post organisiert wird. Schnell zeigt sich, dass sie mit den anderen Teenagern wenig anfangen kann. Beim Schwimmen wird sie eines Tages von einem Jungen am Bein gezogen, der nicht zum Camp gehört. Zeitgleich wachen Mädchen aus ihrem Zelt nachts mit starken Blutungen auf, was die Organisatoren des Camps zu vertuschen suchen. Irgendwann lockt der unbekannte Junge sie unter einen Wasserfall - und auf der anderen Seite tut sich eine Realität auf, die wie die spiegelverkehrte Version der vertrauten Welt wirkt. Zunächst scheint es ihr besser zu gehen, tatsächlich aber entpuppt sich der Junge hier als wahres Monster. Doch die Frau weiß sich zu wehren.
In diesem kleinen Text aus dem Anfangsteil des neuen Bandes blitzen schon einige der Ideen auf, die Asja Bakics Schreiben bestimmen: ein Bewusstsein der Figuren, am Rand zu stehen, oder eine Kritik an patriarchalen Mustern. Eine in jeder Hinsicht bewegliche Vorstellung von Identität, die Beschäftigung mit dem Zerfall Jugoslawiens, aber auch das Umkippen vermeintlich realistischer Vorgänge in surreale oder magisch-mythische Momente. So erfährt die Erzählerin in "Der Männergraben", dass sie ein Grundstück am Rand einer kleinen kroatischen Stadt geerbt hat. Dort entdeckt sie ein Loch im Boden und stößt, wie die junge Frau in "1998", auf eine andere Welt. Die Geschichte verwandelt sich in ein Unterweltszenario, und der Mann der Erzählerin verschwindet. Doch was als offene, von Spannung lebende Erzählung beginnt, wird am Ende über Kommentare derart ausreflektiert, dass vom anfänglichen Geheimnischarakter nichts übrig bleibt.
Auch die Geschichte "Das Zentrum für Leidenschaft", in der die Männer alle an Syphilis gestorben sind und die Frauen erotische Erfüllung nur noch in einem digitalen Freizeitpark finden, ist ein solches Retortenstück, von der ersten Seite an mit Kommentaren ausgepinselt. Trotzdem zeigt Bakic in der Erwähnung der Konzernstrukturen, die hinter dem Park stehen, und in der "falschen Befriedigung", die den Besucherinnen verkauft wird, ein gutes Gespür für Gegenwartsdiagnostik. Mit derselben leicht zynisch angehauchten Ironie, nur wesentlich raffinierter erzählt, entwirft sie in "Die Entführung" eine durchkapitalisierte Welt, in der die ökologische Katastrophe schon weit fortgeschritten ist. Eine Schriftstellerin erhält ein Stipendium auf einer Raumstation mit dem heimeligen Namen "Wintersonne". Im Gegenzug muss sie in ihre Bücher Werbeslogans und Brands einbauen. Präzise wird hier die Perfidie eines absoluten Warenuniversums beschrieben.
Dennoch muss man beim Lesen aufpassen, nicht über die allgemeinen Sätze in den Erzählungen zu stolpern. "Du neigst zu sehr zur Abstraktion", heißt es an einer Stelle nicht von ungefähr. Zudem lässt Asja Bakic manch wahrnehmungsgenau erzählte Passage unmotiviert in Klamauk abrutschen. Dabei macht sie immer wieder deutlich, welche Rettung gerade die Literatur verspricht. Ein dicker Faden aus Anspielungen, die von Goethe über Kafka bis zu Maryse Condé reichen, durchzieht die Geschichten. An solchen Stellen wird jenes "Versprechen der Vielschichtigkeit", von dem einmal die Rede ist, tatsächlich eingelöst. NICO BLEUTGE
Asja Bakic:
"Leckermäulchen".
Erzählungen.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer.
Verbrecher Verlag,
Berlin 2025.
187 S., geb.
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