Besprechung vom 24.04.2025
Ein Licht geht auf
Mit "Streichhölzer" sind erstmals Erzählungen Ásta Sigurðardóttirs auf Deutsch zu lesen
In den isländischen Sagas wurde schon längst auf eine Weise erzählt, die Günter Grass sehr viel später mit seiner Figur Oskar Matzerath in der "Blechtrommel" ans Herz legt: "Niemand sollte sein Leben beschreiben, der nicht die Geduld aufbringt, vor dem Datieren der eigenen Existenz wenigstens der Hälfte seiner Großeltern zu gedenken." Nicht so Ásta Sigurðardóttir, die auch hier einen Eigensinn bis hin zur Aufmüpfigkeit an den Tag legt. Die 1930 geborene und früh, bereits mit Anfang vierzig, verstorbene Isländerin zeigt wenig Geduld, verzichtet auf die langen Ahnenketten der Sagas und gibt ihren Figuren nur gelegentlich ein Familienmitglied bei.
In dreizehn Erzählungen folgt sie Frauen, die auf der Suche nach einem Streichholz durch die Nacht stromern, die kein Zuhause haben oder wegen unanstößigen Benehmens von der Künstlerparty vertrieben wurden. Sie lässt Männer voller heimlichen Stolzes erzählen, dass sie die Töchter aus dem Haus und die Frau in den Wahn getrieben haben, lässt sie auf ihr Leben zurückblicken oder als Jugendliche im Balzkampf gegen amerikanische Piloten verlieren. Das nächste Topmodel mag damals noch als "Schönheitskönigin" aufgetreten sein, doch bleibt faszinierend zeitlos und universell, was Sigurðardóttir an Innenleben und Gesellschaftszustand ausleuchtet.
Das bedeutet keinesfalls, dass sich die Autorin im Abstrakten verliert, im Gegenteil, immer wieder geht es darum, wie sich ein Ich selbst sieht, wie es von seiner Umwelt wahrgenommen wird. Die Frau, die auf der Party unerwünscht ist, weiß genau, was sie von den anderen Besucherinnen unterscheidet: "Jede von ihnen hatte nur einen geliebt - einen einzigen Mann." Sie dagegen hat es gerade auf das kupferglänzende Haar eines Gastes abgesehen, weshalb sie ihre Finger darin verknäult, den "Griff genießerisch verstärkte" - und auf der Straße landet. Dort liest ein Mann sie auf, bietet ihr Obdach an und versucht, sie zu vergewaltigen. Ob die Frau sich doch noch wehren kann, bleibt in der Schwebe.
Die Benachworterin Dagný Kristjánsdóttir weist darauf hin, dass diese Geschichte als eine der ersten MeToo-Geschichten begriffen wird. Was sie so einprägsam macht, ist ihr Facettenreichtum, denn die schmale Grenze zwischen eigenem Begehren und fremder Gewalt ist ebenso scharf nachgezogen wie die Unterschiede bei den Reaktionen auf übergriffiges Verhalten von Männer oder Frauen.
Das führt zum überwältigenden Moment in diesen Texten. Selbst wer viel liest, wird bei Sigurðardóttir immer wieder sprachlich durch Bilder und Wendungen überrascht und beschenkt. Sie kann ihre Randgestalten die Welt poetisch wahrnehmen lassen - "Regentropfen nieselten herab, saugten das Licht auf und trudelten zur Erde wie dem Tode geweihte Nachtfalter" - oder ihnen, wenn Freudengier und Glückssucht nur durch eine Zigarette zu stillen sind, solche Worte in den Mund legen: "Welcher kultivierte Mensch kann ohne Feuer leben?" Um sie anschließend das pseudolateinische Wort "streichholzare" konjugieren zu lassen, selbst wenn es nicht zu einem "streichholzamus" kommt: Für die einsame Raucherin geht kein Licht auf.
Sogar innerhalb einer Geschichte wechselt sie mühelos den Ton. Da spricht eine unverheiratete Frau von einem Traum, der in Erfüllung gehen wird, und zwar "an einem sonnigen Tag im Mai, da kann alles geschehen, oder in einer blauen Frühlingsnacht, etwa dann, wenn der Morgen sich an goldenen Schnüren hinauf in den Himmel zieht". Das kostbare "Schmuckstück", von dem sie träumt, hat auch einen "Miteigentümer". Von da an ist zu ahnen, es geht um eine Schwangerschaft, um "Gesichter mit Augen, die unerbittlich auf meinen Bauch stierten und die Schamesröte von meinen Wangen soffen wie Raubtiere Blut".
Diesen Konflikt zwischen Individualität und Konformitätsdruck gestaltet Sigurðardóttir immer wieder. Dabei führt sie ihre Figuren mit ihrer Mischung aus Naivität und Trotz, aus Verletzlichkeit und Burschikosität nie vor. Als eine in ärmsten Verhältnissen lebende Frau ihre Sozialhilfe nicht für etwas "Solides" ausgibt, sondern Königslilien kauft, klagt sie jene nicht der Unvernunft an, sondern schafft es, den Wunsch nachvollziehbar zu schildern: Kunst und Schönheit gehören existenziell zum Leben, das weiß sogar ein Drosselweibchen, das seinen bisherigen Nestpartner verlässt, weil da eine Rotdrossel "kurzweilige Schlager über vergnügliche Stunden, fröhliche Schmeißfliegen und fette Würmer, duftende Samen und zuckersüßen Honig" singt. Ihre "Kunst war mehr wert als die gute Wirtschaftslage des Konkurrenten".
Bis auf eine Ausnahme sind die Erzählungen zwar düster, aber nicht fatalistisch. Der Überlebenswille und die Überlebenskunst gewinnen. Nur in "Eine Tiergeschichte" schickt Sigurðardóttir ein Mädchen in einem innerfamiliären Machtkampf durch Höhen und Tiefen. Die Kleine ringt mit dem Stiefvater um die Glaubwürdigkeit von Erzählungen, spielt die Tiergeschichte gegen die Kreuzigungsgeschichte aus und gesteht sich ihre eigene Hoffnungslosigkeit ein. Erzählerisch ist auch sie meisterhaft. So bilden die dreizehn Texte ein Panorama der isländischen Nachkriegszeit, das mit seiner Bandbreite und seiner sprachlichen Schönheit zeigt: Der Inselstaat mag weitab liegen, diese Stimme indes fügt sich nahtlos in den Chor europäischer literarischer Stimmen. CHRISTIANE PÖHLMANN
Ásta Sigurðardóttir: "Streichhölzer". Erzählungen.
Guggolz Verlag, Berlin 2025. 221 S., geb.
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