Das Browser-Fenster zum Hof
Die junge Mutter Tiff schlägt sich mit schlecht bezahlten Online-Jobs für die Plattform Automa durch, da sie wegen einer Angststörung ihre Wohnung kaum verlassen kann. Ihre zermürbende Akkordarbeit wird als angebliche Überwachungsleistung einer KI teuer verkauft, weshalb sie zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Doch dann wird sie am Bildschirm Zeugin eines Verbrechens . . .
Ein visionärer Gegenwartsroman, der zwischen der Klaustrophobie der eigenen vier Wände und den Hanffeldern Kaliforniens spielt und von neuen Ausbeutungsverhältnissen und den Chancen virtueller Solidarität erzählt.
»Dieses Buch ist ein Geniestreich. Vordergründig geht es um Kapitalismus, Digitalisierung und Angst, aber im Kern enthält es, was dabei oft vergessen wird: unsere Menschlichkeit. Berit Glanz erzählt wagemutig und klug von einem Gefühl, an dessen Existenz wir kaum noch glauben, obwohl es alles verändern kann. Es ist Hoffnung. « Mareike Fallwickl
»In einer auf den ersten Blick einsamen Wirklichkeit des anonymen Clickworkings, des heimlichen Voyeurismus und der entfremdenden Überwachung lässt Berit Glanz die Hoffnung aufblitzen, dass bei all der künstlichen Intelligenz letztlich doch auch die soziale nicht verloren geht. « Samira El Ouassil
Besprechung vom 13.03.2022
Was in diesem Browserfenster passiert ist
Auch in ihrem lang erwarteten neuen Roman schreibt Berit Glanz weiter vom schöpferischen Austausch zwischen analogem und digitalem Leben: "Automaton"
Man müsste die Nomenklatur schon sehr gut kennen, um zu wissen, was die Kapitelüberschriften bedeuten, die Berit Glanz für ihren neuen, zweiten Roman "Automaton" gewählt hat: Grönlandhai, Aaskrähe, Stieleiche - wer kennt schon deren wissenschaftliche Namen? Die Autorin weiß: niemand. Und sie weiß auch: Man muss "Polyomma . . ." nicht mal ganz in die Browsermaske eingeben, schon erscheinen dort zwei neue Worte: Hauhechel-Bläuling, dazu ein Bild, zu klein, um es zu erkennen.
Glanz ist eine Literaturwissenschaftlerin, die genau das beschäftigt: wie all die Sucheingaben, Chats, Videos und Bilder, wie Künstliche und Schwarmintelligenz sowohl unsere Sprache als auch unser Verständnis von Wissen und Verbundenheit längst grundlegend verändert haben - und wie sich das in Lyrik und Literatur niedergeschlagen hat.
Bis vor einem Jahr unterrichtete Glanz Skandinavistik in Greifswald, heute lebt sie in Reykjavík; sie schreibt Essays und betreut unter anderem den Blog "54 Books", der sich als digitales Feuilleton versteht. Vor drei Jahren erschien ihr erster Roman "Pixeltänzer", ein Debüt, das sehr gelobt wurde. Auch, weil sie kurzerhand eine App dafür erfand (in einem Interview sagte sie einmal, dass sie wohl Apps entwickeln würde, wenn sie nicht schriebe). Die Protagonistin - eine junge Frau namens Beta, die aufgeht in der Start-up-Tech-Szene - wird täglich von dieser App per Anruf geweckt. Der anonyme Anrufer weckt aber auch ihre Neugier, legt ihr digitale Spuren zum Leben einer Tänzerin, das längst erloschen ist; und die Auseinandersetzung mit diesem Leben verändert Beta.
Es ist das Hauptmotiv, das sich nun auch in ihrem neuen Roman wiederfindet: die Suche nach dem richtigen Leben im digitalen. Und für einen Roman, der nach zwei Jahren Pandemie erscheint, hätte sich Berit Glanz wohl keine bessere Protagonistin als Suchende ausdenken können: die alleinerziehende Mutter Tiff, die von zuhause arbeitet.
Tiff hat zuvor in einem Großraumbüro für ein soziales Netzwerk gearbeitet, doch das liegt hinter ihr. Denn all die Bilder, die sie als sogenannte Contentmanagerin filtern musste, um andere davor zu schützen, waren so furchtbar, dass sie ihr die Lebensfreude nahmen. Früher hatte sie abenteuerliche Träume, jetzt gibt es in ihrem Kopf "nichts Außergewöhnliches mehr, nur tote Katzen, zerquetschte Hamster, gequälte Kinder, Blut, Tod und Folter und viel zu viele mit Benzin in Brand gesteckte Dinge". Tiff leidet unter Panikattacken, das Haus kann sie kaum noch verlassen.
Und sie leidet unter der Einsamkeit, die damit einhergeht, der Isolation vom richtigen Leben da draußen. Ein Umstand, den sie vielleicht mit sich ausmachen könnte - wäre da nicht ihr kleiner Sohn Leon, der unweigerlich auch darunter leidet, wenn sie es nicht aus dem Haus schafft.
Zumindest gibt es ihren Nachbarn Mikael, der nach der Trennung von seinem Mann auch etwas einsam ist. Er ermuntert sie dazu, einen neuen Job anzunehmen, der ihr verspricht, "ohne weitere Vorkenntnisse" arbeiten zu können und "sich nicht mehr hinauszwingen zu müssen". Als sogenannter "Automaton" kann sie sich über ein Forum ihre "Autobs" selbst aussuchen; sie muss Bilder, Texte, Videos ansehen, verschlagworten, kategorisieren. Diesmal ist das, was sie sieht, zwar harmlos, die monotonen Aufgaben wirken sogar "beruhigend auf sie". Doch irgendwann schlägt ihr auch die "Eintönigkeit des Klickens" aufs Gemüt. Und weil die Bezahlung miserabel ist (das Unternehmen wirbt damit, dass eine Künstliche Intelligenz am Werk sei, doch die ist teurer als die menschlichen Automatons), werden für TiffCat, wie sie sich nennt, die anderen Automatons - Nik78 und Stariseria - zum eigentlichen Grund, sich Überwachungsaufnahmen von Lagerhallen anzusehen. Nebenbei können sie zumindest ein wenig chatten.
Der Roman könnte nun in diesem Szenario verharren und kritisieren, wie Menschen in der digitalen Welt überwacht werden, vereinsamen und unmündig werden: Menschen, die auf Videos von Hallen starren, in denen Menschen auf Videos von Hallen starren. Aber "Automaton" ist keine Dystopie. Denn Glanz ist als Wissenschaftlerin und Autorin viel zu sehr an der Gegenwart und an dem Schöpferischen im Digitalen interessiert. In ihrem Residenz-Projekt "Nature Writing / Machine Writing" ließ sie beispielsweise eine KI anhand von Gemälden Naturgedichte schreiben. Sie probierte aus, was passiert, wenn man aus Pieter Bruegels "Landschaft mit dem Sturz des Ikarus" den hochmütigen Erfindersohn per Photoshop verschwinden und die Maschine das Gedicht noch einmal schreiben lässt. Spoiler: Es entstehen viel schönere Verse.
Natürlich kann der digitale Raum auch in unendliche Abgründe führen. Aber Berit Glanz belässt es lieber bei dem anfänglichen Verweis darauf, was Tiff schon hinter sich hat. Sie konzentriert sich auf den Spielraum, der sich selbst bei einer monotonen Inventur eröffnen kann. Als Tiff eines Nachts entdeckt, dass der Obdachlose, den sie so oft in den Überwachungsaufnahmen beobachtet hat, nicht mehr da ist, verlässt sie als Protagonistin die Häuslichkeit eines Schauerromans - und wird zur James-Stewart-Figur in einem Hitchcock-Film. Tief besorgt möchte sie herausfinden: Was ist in diesem Browserfenster passiert? Es wird ihre Aufgabe, Nik78 und Starisera werden ihre Helfer.
Dass in "Automaton" ausgerechnet ein Mensch verschwindet, der für diejenigen, die ihn physisch erlebten, unsichtbar war; dass seine Abwesenheit erst durch das Fehlen seines digitalen Abbildes auf einem anderen Kontinent auffällt - das ist eine charmante Verkehrung der digital-kritischen Rhetorik, die fürchtet, dem Menschen gehe alles Menschliche verloren, sobald er zu Nullen und Einsen werde.
Der Prämisse, nicht aus dem Abgründigen zu schöpfen, sondern das Mögliche zu erkunden, bleibt der Roman in einem zweiten Handlungsstrang dann auch treu. Tiff wird eine Protagonistin auf einem anderen Kontinent gegenübergestellt. Stella lebt an der amerikanischen Westküste, auch sie geht einer Arbeit nach, die vielleicht längst von Maschinen hätte übernommen werden können; teils ist sie anstrengender (Schalentiere sortieren), teils ehrenvoller (Suppe verteilen), teils illegal (Hanfblüten beschneiden). Sie kann zwar das Haus verlassen, doch seit dem Tod ihres Partners Dylan ist auch ihr Leben wie "in eine zähe Masse eingeschlossen, jede Bewegung ist beschwerlich, jede Handlung ein Stemmen gegen einen übermächtigen Widerstand".
Wie Tiff geht es Stella weniger um Geld (das auch sie dringend benötigt) als darum, "ihren Trauerkokon zu verlassen", unter Menschen zu sein. Doch auch wenn sie unter ihnen ist und ihre Arbeit ihr sogar sinnvoll vorkommt: "Die Einsamkeit aber ist geblieben." Nicht zuletzt, weil die Menschen um sie herum genauso schnell verschwinden, als würde jemand einen Laptop zuklappen. Stella sucht deshalb in der Vergangenheit danach, was Gemeinschaft bedeuten könnte. Zu Zeiten ihres Großvaters brauchte es schließlich stets mehrere Männer, um die Mammutbäume Kaliforniens zu fällen. Als sie ihren Freund James fragt, der Erfahrungen als Holzfäller hat, lacht der nur trocken: Man rauche vielleicht mal zusammen, aber "seit den großen Holzarbeiter-Streiks, an denen dein Opa vielleicht noch beteiligt war, hat auch niemand mehr ein Interesse daran, dass große Freundschaften unter den Arbeitern entstehen".
Der Roman ist nicht, das sei vorweggenommen, die Geschichte einer großen Freundschaft. Die Leben von Tiff und Stella, von denen Berit Glanz so durchdringend ruhig erzählt, werden sich auf eine andere Weise miteinander verbinden. Auch ist der Roman keine packende Kriminalgeschichte, die raffiniert Stränge zusammenführt - dafür ist die Lösung des Falls zu einfach gestaltet. Nein, in "Automaton" wird deutlich, dass der Flügelschlag eines Polyammatus icarus keinen Sturm und keinen Absturz auslösen muss. Sondern einfach nur den Flügelschlag eines anderen Hauhechel-Bläulings. CAROLINE JEBENS
Berit Glanz: "Automaton". Roman. Berlin Verlag, 288 Seiten
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