Besprechung vom 30.11.2024
Meisterstücke eines Restlichtverstärkers
Im Alter von bald achtzig Jahren veröffentlicht Botho Strauß einen neuen Band mit Prosaminiaturen: "Das Schattengetuschel"
Seit einiger Zeit befindet sich die deutschsprachige Literatur - vielleicht erstmals? - in der Situation, dass alle Generationen auf ihrem Feld vertreten sind: von den knapp zwanzigjährigen Debütanten bis zu weiter und weiter schreibenden Autoren im hohen Alter. Möglicherweise lohnt sich das Gedankenexperiment, einmal nicht das eine gegen das andere auszuspielen, sondern für einen Moment den Reichtum der literarischen Landschaft zu bestaunen?
In jedem Fall haben wir es als Leser mit einer Fülle von Alterswerken zu tun. Von denen lassen sich inzwischen charakteristische Schreibweisen bestimmen. Zunächst ist da ein auffälliger Verzicht auf große Erzählbögen und Kompositionen, dafür vermehrtes Auftreten von Ästhetiken kleiner Formen. Hinzu kommt eine gediegene Metaphorik, der Auftritt topischer Figuren, ein bis zum Rand gefüllter, von Lektüre und Erlebnis gestählter Fundus kulturellen Wissens und seit einiger Zeit schon: eine ausgeprägte Wokeness-Idiosynkrasie, die sich mit einem nostalgischen Ton verschränkt, der sich wiederum aus dem Blick auf eine lange Lebensbahn begründet. Selbstverständlich gehört zu diesen Charakteristika auch ein Figurenarsenal, das selbst eine gewisse Altersgrenze überschritten hat.
Botho Strauß hat pünktlich zu seinem am Montag anstehenden achtzigsten Geburtstag "Das Schattengetuschel" publiziert. Der Band weist alle diese Charakteristika auf. Er breitet einen weiten Fächer poetischer Miniaturen aus. Mit der Erzählung über einen alleinstehenden Vater, der vergeblich auf seinen an den Berufs-, Reise- und Alltagsstress verlorenen Sohn wartet, setzt es seinen Ton. Um im Bild eines Dramatikers zu münden, der sich aus dem Theater bitten lassen muss, nachdem er heimlich versucht hatte, nur noch einmal die Probenatmosphäre am eigenen Leib zu spüren. Strauß' Band entfaltet seine Prosakleinode aus der Frage, wie man mit Würde Abschied nimmt. Wie nach all den Auftritten ein Abgang möglich ist, ohne gegangen zu werden.
Das ist nicht ausschließlich eine Frage des Alters. Das kann auch ein junges Mädchen betreffen, das auf seltsam perfide Weise auf seinem Anrecht auf ein eigenes Hotelzimmer pocht, um nicht in den Familienbanden des Freundes gefangen zu sein. Aber es ist bei Strauß doch vor allem eine Frage vom nahenden Lebensende: "Wie man das späte Leben doch am besten verplaudert. Sofern sich die geeignete Gesellschaft findet wie in Fontanes Alterswerk." Sentenzen der Altersweisheit und -müdigkeit durchweben die ersten beiden Sequenzen von Miniaturen, die diesen Band füllen, ebenso wie sie den Grundton der abschließenden neun Ausfächerungen von Sentenzen und Aphorismen bilden: "Alles geht so weiter, geht eben so und sättigt sich mit Bedeutungslosigkeit. Vieles macht Freude. Und so dümpelt man im Geplätscher der Stunden dahin. Du hast so viel vertan, wie du getan hast."
Einige Figuren treten aus kanonischen Romanen, Dramen, philosophischen Texten (von Strindberg bis Shakespeare, von Platon bis Kierkegaard) hervor, um von Strauß zu neuem Leben erweckt zu werden. Andere gewinnen ihre Gestalt aus präziser Beobachtung einerseits, bei gleichzeitiger Typisierung andererseits: "Ein Vater, alleinstehend, Graphiker, nicht gut bezahlt", "das Mädchen, das eine Religionsversicherung abschließen will", Inertia, "das ist lateinisch: die Trägheit. Ihre Trägheit war ihr heilig und unantastbar", oder auch jener Herr: "auf seinem alten Schulhof stand er und war ein abgestandener Mann". Nimmt man das Wort ernst, das eine der drei Moiren bei ihrem Auftritt "später am Tresen, auf hohem Hocker" äußert, so entfalten sich die Figuren dieser Texte aus "Protopersonen. Grundwesen, aus denen seit Urzeiten die verschiedensten Personen - Abzweige, Varianten, Mischungen und Mutationen hervorgehen".
In dieser Identifikation und Beobachtung von Prototypen und ihrer ebenso genauen wie lebendigen Beschreibung ist Strauß ein Meister: "Der Mann, mit dem seine Frau eingehakt ging, hatte sich ein wenig von ihr gelöst, so daß nur noch ihre Hand in seiner Armbeuge lag. Seine Aufmerksamkeit galt indes mit schwachen, zusammengekniffenen Augen einem Brunnen im Stil der Frührenaissance." Es treten auf: der subtil geführte, untergehakte Mann und der Wiedergeburts-Brunnen. Weil vom "Alten Mann und das Meer" eben nicht mehr als gebändigtes Wasser übrig blieb. Und die Frau an seiner Seite setzt gleich noch einen drauf, wenn sie ihren Mann zu einer Art unfreiwilligem Frühromantiker macht: "Ihrem Mann verrutschten die Wörter jetzt oft, so daß er bestimmte Phänomene nicht mehr zutreffend benennen konnte. Mit sanftem glissando streifte er verschiedene Bedeutungen, ein schönes Ungefähr entstand, so daß das gewählte Wort eine Tatsache oder einen Gegenstand nur am Rande noch berührte." Klingt, als würde Novalis mithilfe eines Gegensatzes den Zustand eines Gegenstandes beschreiben.
Die literarische Qualität dieser Miniaturen ist ebenso divers, wie es ihre Gegenstände sind. Einzelne Prosastücke wirken wie Skizzen zu möglichen Romanen. Andere scheinen auf den Punkt als Stillleben geschrieben zu sein.
Abgerundet wird der Band über eine neunteilige Sammlung von Sentenzen und Aphorismen. Mitunter wirkt es, als würden dem "Dichter, Restlichtverstärker" zuletzt wirklich nur einzelne Sätze bleiben, in deren Prägnanz sich das Wissen kristallisiert: "Stets hielt er diejenigen, die sich einbilden, die Sprache zu beherrschen, für armselige Eingebildete." Korrespondiert dann plötzlich mit Heinrich Hertz' Satz: "Die Strukturen sind klüger als wir." Sind solche singulären Sentenzen das, was den Sätzemachern bleibt, wenn für sie gilt: "Sie müssen aufpassen wie die Heftelmacher, auch ihre Feinarbeit berücksichtigt winzige Ösen und Haken"? Die Schönheit dieser Miniaturensammlung besteht - so seltsam tautologisch das klingen mag - tatsächlich im Kleinen. Und darin, dass man diesen Band einfach irgendwo aufschlagen kann, um die Lektüre der Preziosen wieder und wieder zu beginnen. CHRISTIAN METZ
Botho Strauß: "Das Schattengetuschel".
Hanser Verlag,
München 2024.
240 S., geb.
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