Besprechung vom 24.05.2025
Der Lolita-Komplex aus feministischer Sicht
Cecilie Lind lässt eine Halbwüchsige zur männermanipulierenden Liebessehnsüchtigen werden
Sara ist Puppe und Puppenspieler zugleich. Die halbwüchsige Hauptfigur beherrscht als Ich-Erzählerin diesen Roman, der den Lolita-Komplex, das war offenbar mal wieder nötig, neu durchkonjugiert. Das Buch beginnt mit Sara im dreizehnten Lebensjahr, ihr Erwachsenwerden definiert sich über ihr Bewusstsein davon, welche Macht sie über Männer hat. Ältere Männer: Der erste, dem sie verfällt und der demzufolge ihr verfällt, ist der Pfarrer Danilo. Dann kommt der Vater ihrer besten Freundin Rosa, und eigentlich soll es so ganz allmählich auch Saras Vater werden, aber so weit kommt es nicht. Sie landet in einer Anorexie, und am Schluss des Romans gibt es eine Ehe mit Rosas Vater, Hochzeitsnacht im Reetdachhaus inklusive. Ob das Saras Phantasie ist oder Realität, bleibt ziemlich offen.
Dass Cecilie Lind als Lyrikerin ins Licht der dänischen Gegenwartsliteratur trat, kann man dem Buch gut anmerken; wahrscheinlich ist das Lolita-Thema noch nie in einer breiter angelegten Bildersprache behandelt worden. Unabhängig davon ist der Roman ein wilder Ritt durch alles, was bei dem Thema auch richtig unangenehm, abstoßend und widerlich ist - also "ungustiös", wie man in Österreich sagt. Die eine Seite von Sara ist ihre Wahrnehmung der Veränderung ihres Körpers und die Wahrnehmung der damit zusammenhängenden Macht über die Blicke der Männer, die sie wahrnehmen. Die andere sind ihre Kindheit und einsetzende Pubertät in einem modernen Elternhaus, in dem die Erwachsenen eine zeitgemäße Ehe mit allen Konfliktumgehungsstrategien führen, die von der Ratgeberindustrie feilgeboten werden. Saras Begierde nach Männern entwickelt sich in dieser Wahrnehmung ihrer eigenen Entwicklung als Gegenmodell zum auch sexuellen Leben ihrer Eltern. Deren Leben mit der Lust soll bei ihr schöner, leichter, edler werden, ein Kunstwerk werden. Hunger führt zur Leichtigkeit, man muss nur aufhören zu essen. Dann kriegt man auch nicht eine derart aufdringliche Weiberrundung an der Hüfte oder obenrum wie Saras Freundin Rosa.
Mit der derart gewonnenen und zu gewinnenden Leichtigkeit will Sara den Sieg davontragen, den Sieg der begehrenswertesten Mädchenfrau überhaupt. Sieg über die Welt und damit Sieg über die (älteren) Männer, von deren begierigen Blicken sie ebenso angezogen wie abgestoßen ist. Denn es geht immer auch um die Sehnsucht nach einem Dasein, das nicht von sexuellen Phantasien und dem Drang, diese Wirklichkeit werden zu lassen, grundsätzlich bestimmt ist. Es geht darum, dass es eine Liebe gibt, die mehr ist, als von älteren Männern ausgenutzt zu sein.
Der Roman verhält sich auf diese Weise vollkommen ethikfrei zu den Dingen, die er schildert. Das Buch registriert die Verhältnisse und Ereignisse, die in ihm spielen. Cecilie Lind macht einen großangelegten literarischen Versuch, die Grenzen und Kräfte sexuellen Begehrens in der Form eines Romans zu vermessen. Sara begehrt die Macht, die ihr ermöglicht, ihre Begierde zu leben. Und sucht - eigentlich verzweifelt - nach dem Grund, auf dem sie irgendwann, irgendwie gelernt haben muss, diese beiden dialektisch verschränkten Dynamiken leben zu wollen. Ihre Persönlichkeitsspaltung entwickelt sich perfekt.
Das ist kein Buch, das man ein zweites Mal lesen möchte. Aber ein Buch, das ohne feministisch gelenktes und gegründetes Wissen über ältere europäische Männer wohl nie zustande gekommen wäre. STEPHAN OPITZ
Cecilie Lind:
"Mädchentier". Roman.
Aus dem Dänischen von Alexander Sitzmann. März Verlag, Berlin 2025. 201 S., geb.
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