Besprechung vom 04.10.2024
Sinn für Zeitfragen
Christian Meier in Texten und Gesprächen
Als Historiker möchte er gelten, mit dem Spezialfach Alte Geschichte. Christian Meier erzählt, wie er kurz nach Kriegsende eher zufällig, durch akademische Lehrer - Ernst Hohl in Rostock, dann besonders Hans Schaefer in Heidelberg - und fehlende Alternativen zu den Griechen und Römern kam. Immer wieder hat er das Feld seiner Spezialisierung verlassen und sich, auch in Buchform, zu großen Zeitfragen geäußert: Geschichtskultur nach Auschwitz, die deutsche Einheit als Herausforderung, die parlamentarische Demokratie, das "Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns". Und ebenfalls ein Zufall: Als Vorsitzender des Fachverbands stand er 1986/87 zwischen den Fronten des "Historikerstreits" und verwandte viel Mühe und Zeit darauf, den Laden zusammenzuhalten. Historiker jedweder Spezialdisziplin sollten übrigens, so seine Überzeugung, "immer auch Zeithistoriker sein".
Doch das ist kein Hinter-sich-Lassen. Konzentriert arbeitet der heute Fünfundneunzigjährige an der Fortsetzung einer großen Darstellung des antiken Europas, einst vereinbart mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler, rationalisiert als konsequenter dritter Schritt eines Lebenswerkes: Auf die Biographie einer Person (Caesar) und einer Stadt (Athen) folgt die einer ganzen Großepoche. Nur reicht dafür ein einziges Buch nicht. "Kultur um der Freiheit willen" beleuchtet die Selbstfindung der Griechen; das Manuskript zu Hellas bis Alexander sei fertiggestellt. Seit Jahrzehnten reden Kollegen wider die von Meier vielleicht ernst gemeinte, wohl aber auch ein wenig kokett vorgetragene Einschätzung, er habe in seiner engeren Zunft sehr wenig bewirkt - sie mag herrühren aus Erfahrungen in München, wo er seit 1981 wirkte, ist aber gleichwohl grotesk falsch.
Wer bisher wenig oder nichts von ihm gelesen hat, findet in der schmalen Anthologie einen trefflichen Einstieg. Michael Knoche, Germanist und zuletzt Direktor der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, hat Essays sowie ein Gedenkblatt Meiers für einen Gymnasiallehrer von prägender Wirkung auf ihn zusammengestellt, ergänzt durch fünf Gespräche, in denen Fachliches, Autobiographisches und Zeitdiagnostik zusammenfließen. Vier der sechs Stücke sind zuerst in dieser Zeitung erschienen.
Besonders anregend sind die Texte dort, wo ihr Eigensinn dem Zeitgeist widerrät oder mindestens Doppelbödigkeiten offenbart. So skizziert Meier, wie die Griechen die Verantwortung für ihre eigenen Gemeinwesen entdeckten und aus Einwohnern Bürger werden mussten, ein komplexer Prozess. Dabei bleibt ungesagt: Wenn heute von "Mitbürgerinnen und Mitbürgern" die Rede ist, sind meist alle Einwohner gemeint. Inzwischen ebenfalls anstößig dürfte sein, wie er anlässlich einer Ausstellung zur Vertreibung der Juden aus der Oper zunächst den Verlust für die Deutschen in den Vordergrund stellt, um dann die Position der Judenfreunde als die eigentliche Schwierigkeit für das Verstehen zu bezeichnen: "Waren die Freunde der Juden auch Freunde der Juden als Juden, als Juden zumal, die Juden bleiben wollten?"
Das Gedenken an das, was geschah, sieht Meier institutionell wohletabliert, jedoch weder dort noch bei Historikern oder Kultusministern gut aufgehoben, vielmehr als "ein Problem von uns allen". Der Wechsel der Generationen, der wachsende Anteil von Menschen, "die, wie es so schön heißt, einen Migrationshintergrund haben", dies und mehr stelle die gesamte Gesellschaft vor Herausforderungen, und "die Flucht in das stumpfsinnige Betroffensein" helfe nicht weiter.
Distanz und Distanzierung erscheinen erklärbar: Gedenken braucht Rahmen, Rituale, Routinen; die Alte Geschichte hat historisches Material, das nach Zunftregeln gehoben und bearbeitet werden muss. Was Meier in beidem zu wenig präsent, für ihn selbst aber zentral ist: der Zweifel, die bohrende Frage, der Sinn für das kaum Begreifliche. Wohl weil dieses höchst persönliche Ringen nie an ein Ende kommt, fallen die Reflexionen und Erinnerungen des Mannes, der nicht wenige Junge zur Althistorie brachte und fruchtbaren Umgang pflegte mit Dutzenden Köpfen bundesrepublikanischer Geistigkeit, so skeptisch, bisweilen melancholisch aus. UWE WALTER
Christian Meier: "Vergangenheit ohne Ende?" Texte und Gespräche zur alten Geschichte und zur Gegenwart.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 136 S., geb.
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