große irische Erzählkunst, atmosphärisch und atemberaubend in ihrer Klarheit
Claire Keegan gehört zu den herausragenden Stimmen der irischen Gegenwartsliteratur. Geboren 1968 in der Grafschaft Wicklow, wuchs sie als jüngstes von sechs Kindern auf einem Bauernhof auf. Die Anglistin und Politikwissenschaftlerin hat sich einen Ruf für präzise Sprache, feinfühlige Beobachtung und eine tiefe Menschlichkeit erworben. All dies vereint sie auch in der Erzählung "Das dritte Licht".Die Geschichte spielt im ländlichen Irland Anfang der 1980er Jahre. Ein junges Mädchen, vermutlich im Grundschulalter, wird von ihren Eltern zu entfernten Verwandten geschickt, während die Mutter erneut schwanger ist und es im kinderreichen Elternhaus stets an Zeit und Geld mangelt. Bei den Pflegeeltern erlebt das Mädchen erstmals wirkliche Zuwendung, Wärme, Fürsorge ¿ Dinge, die in ihrem bisherigen Leben kaum existiert haben. Es sind kleine Gesten (ein heißes Bad, neue Kleidung, eine Umgebung, in der man nicht ignoriert wird), die in ihrer Summe eine große Wirkung haben. Doch über allem liegt eine stille Spannung, ein Geheimnis, das nicht ausgesprochen wird, aber Schatten wirft. Das Ende ist offen, vieles bleibt in der Schwebe, wird angedeutet statt erklärt. Obwohl das schmale Buch nur etwas über 100 Seiten umfasst, entfaltet es eine erstaunliche Intensität. Die Sprache wirkt auf den ersten Blick schlicht ¿ kein großer dramatischer Aufruhr, keine ausschweifenden Beschreibungen ¿ aber sie ist dicht, voller Andeutungen und Metaphorik. Wer aufmerksam liest, entdeckt feine Nuancen: welche Dinge das Mädchen empfindet, wie es zwischen zwei Welten steht ¿ dem Zuhause, das voller Mangel und Härte ist, und dem temporären Zufluchtsort bei den Verwandten. Die Ich-Perspektive des Mädchens ist überzeugend gestaltet: es weiß nicht alles, versteht nicht alles, hat keine Worte für manches, und das trägt zur Authentizität bei. Diese Begrenzung der Sicht ist Teil der Kraft der Erzählung. Sehr berührt hat mich die stille Traurigkeit, die mit wenigen Szenen, wenigen Worten erzeugt wird, ohne je sentimental zu werden. "Das dritte Licht" enthält sowohl Hoffnung als auch Verletzlichkeit: Hoffnung in der Zuwendung, Verletzlichkeit in der Erkenntnis, dass diese Zeit vorübergehend ist und das Leben für das Mädchen komplexer sein wird, nachdem sie zu ihren leiblichen Eltern zurückkehrt.Wer Literatur liebt, die still, aber kraftvoll ist, die von Innen wirkt statt laut zu schreien, wird hier eines der schönsten Beispiele dafür finden.