Niemand kann diese Geschichte so erzählen wie derjenige, der sie aufgedeckt hat
Der Financial-Times-Journalist Dan McCrum hat getan, wofür eigentlich Wirtschaftsprüfer und Finanzaufsicht zuständig sind: Er hat den größten Betrug der DAX-Geschichte aufgedeckt. Die Geschichte klingt filmreif: Wirecard, neben SAP das einzige deutsche Tech-Vorzeigeunternehmen, wird gehypt und übertrifft sogar den Börsenwert der Deutschen Bank. Der bargeldlose Zahlungsverkehr von Onlinegeschäften und Kreditkarten scheint ein überzeugendes Geschäftsmodell, eine Banklizenz eröffnet weitere Möglichkeiten.
Aufgrund der kritischen Berichterstattung von Dan McCrum erstattet die deutschen BaFin, wegen des Verdachts auf Aktienmanipulation, Anzeige gegen ihn und eine Financial-Times-Kollegin. Als die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young feststellt, dass fast zwei Milliarden Euro auf philippinischen Treuhandkonten gar nicht existieren, stürzt die Aktie des Konzerns innerhalb von wenigen Tagen von EUR 104 auf EUR 1, 28. In kürzester Zeit verbrennen im zweitgrößten Kursrutsch der DAX-Geschichte Milliarden Euro, Tausende von Anlegern verlieren ihr Geld. Wirecard-Chef Markus Braun muss in Untersuchungshaft, sein Vorstandskollege Jan Marsalek flüchtet, . Der Bundestag setzt einen Untersuchungsausschuss ein, in dem auch Dan McCrum gehört wird. BaFin-Chef Felix Hufeld muss gehen, auch Hubert Barth, Deutschland-Chef von Ernst & Young, verliert seinen Posten.
Dan McCrums Buch erzählt die rasante und filmreife Story von Mitwissern und Helfern, Geheimagenten und Kriminellen aus seiner ganz außergewöhnlichen Sicht, denn er ist selbst Teil dieser unglaublichen, aber wahren Geschichte.
Besprechung vom 07.06.2022
Der Wirecard-Fall aus erster Hand
Dan McCrum hat den Wirtschaftsskandal enthüllt
An dem Tag, an dem der Wirecard-Konzern mangels Testat keine Bilanz vorlegen konnte, saß Dan McCrum in seiner Wohnung in St. Albans und fühlte sich wie ein Fußballspieler, der bei der Weltmeisterschaft ein Tor geschossen hat. "Ich platzte in die Küche, rannte herum und jubelte", schreibt der für die Londoner "Financial Times" (FT) arbeitende Journalist. Seiner fragenden Tochter antwortete er: "Die bösen Jungs kommen ins Gefängnis."
So persönlich wie der Moment, als er nach fünfjähriger Recherche zu den Machenschaften im damaligen Technologieunternehmen endlich recht behalten sollte, ist vieles in dem wohl glaubhaftesten, bisher erschienenen Wirecard-Buch. Es hat eine Weile gedauert, aber das Warten hat sich gelohnt. Zuvor haben schon einige Journalisten, darunter Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg ("Die Wirecard-Story") sowie Felix Holtermann ("Geniale Betrüger"), ihre Sicht auf den Zahlungsdienstleister und seine zwielichtigen Manager in Buchform geschildert - und mit Jörn Leogrande ("Bad Company") tat dies sogar ein ehemaliger Wirecard-Mitarbeiter. Aber niemand kommt an Dan McCrums "House of Wirecard" heran. Er ist derjenige, der früh auf der richtigen Fährte war und zum Gegenspieler des damaligen Wirecard-Chefs Markus Braun und seinem Partner Jan Marsalek aufstieg. Das Buch ist also nicht nur die detailliert aufgearbeitete Geschichte vom Aufstieg und Fall des Dax-Konzerns im Münchner Vorort Aschheim, es ist auch die Geschichte eines 43 Jahre alten britischen Reporters, der mithilfe von Whistleblowern und Kollegen beharrlich recherchiert hat - und dabei befürchten musste, selbst Job und Existenzgrundlage zu verlieren. "Mehr als einmal glaubte ich, meine Karriere sei zu Ende", schreibt McCrum im Vorwort zur deutschen Ausgabe.
Alles begann, als ein Wirecard-Mitarbeiter in Singapur der FT interne Belege und Dokumente zuspielte. Die Vorwürfe der Geldwäsche, der Nachweis des Scheinfirmengeflechts, die Unregelmäßigkeiten in der Bilanz, all das trug McCrum zusammen. Er kam der Wirecard-Führung auf die Schliche, konnte beschreiben, wie sie Kunden erfanden und Unternehmensbewertungen manipulierten. Wirecard war ein Kartenhaus, und McCrum brachte es zum Einsturz. Seine Recherchen führten dazu, dass der Wirecard-Vorstand zu einer Bilanz-Sonderprüfung durch KPMG gezwungen wurde. Die Wirtschaftsprüfer stellten fest, dass Belege in Milliardenhöhe fehlten. Wirecard musste einräumen, dass auf Treuhandkonten verbuchte 1,9 Milliarden Euro nicht auffindbar waren und daraufhin Insolvenz anmelden. Das ist die Geschichte, die viele kennen.
McCrum nimmt den Leser mit hinter die Kulissen des Krimifalls. Dabei ist er dem langjährigen Wirecard-Chef Braun nur ein einziges Mal begegnet, den heute flüchtigen Marsalek hat er nie getroffen. Schon vor dem Aufstieg des Unternehmens in die oberste Börsenliga ahnte der Autor, dass Wirecard ein nationaler Hoffnungswert war: "Für die Deutschen war Wirecard ein Eigengewächs in der Technologiebranche", schreibt er, die deutsche Antwort auf Paypal. McCrum machte in seinem einzigen Gespräch mit Braun im Dezember 2014 dieselben Erfahrungen wie andere Journalisten nach ihm. Der Versuch, "Braun auf Details festzunageln, war zwecklos", schreibt er. "Seine Antworten waren verschlungen und widersprüchlich. Er sprach nur in Verallgemeinerungen, wenn es nicht gerade um die Verzehnfachung von Wirecards Aktienkurs ging."
Die Erfahrungen, die McCrum mit Marsalek gemacht hat, sind indes einzigartig. Marsalek kontrollierte bekanntlich das mutmaßlich kriminelle Geschäft in Asien und kümmerte sich persönlich um jenen Treuhänder, der die fraglichen 1,9 Milliarden Euro auf den Philippinen verwaltete. Er bot McCrum über einen Mittelsmann zehn Millionen Euro Schweigegeld an, heißt es in dem Buch. Bis heute wissen McCrum und sein damaliger Chef Paul Murphy, Leiter des Investigativ-Ressorts bei der FT, nicht, ob dies eine Falle war, um die Journalisten der Korruption überführen zu können.
"House of Wirecard" liest sich spannend wie ein Krimi, erst recht die Kapitel, in denen der Autor selbst in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen McCrum wegen Verdachts auf Marktmanipulation. Im Februar 2019 teilte die Behörde mit, ihr läge die Aussage eines Leerverkäufers vor, der zugegeben habe, vorab über die Wirecard-Berichterstattung der FT informiert zu sein. Auch die Bundesanstalt für Finanzaufsicht (Bafin) schaltete sich ein, weil sie einen Zusammenhang in den Artikeln und den Kursturbulenzen der Wirecard-Aktie sah. Nun stand der Reporter wie ein Krimineller da. McCrum konnte sich aber auf seinen damaligen Chefredakteur Lionel Barber verlassen, der die Vorwürfe durch ein Gutachten einer Anwaltskanzlei widerlegen ließ. "Ein kaum bekannter Reporter drüben in London hatte die Seiten der FT für einen Rachefeldzug gegen eines der erfolgreichsten Technologieunternehmen Europas gekapert." So empfand McCrum die Stimmung in Deutschland gegen ihn.
Dass ausgerechnet in Deutschland dieser Milliardenbetrug so viele Jahre unbemerkt blieb, dafür hat der Brite eine überraschend einfache Erklärung. Das Land habe "eine gut funktionierende Wirtschaft, in der es die absolute Ausnahme ist, sich ins Gesicht zu lügen." Und Wirecard missbrauchte dieses moderne Gesellschaften prägende Vertrauen. HENNING PEITSMEIER
Dan McCrum: House of Wirecard - Wie ich den größten Wirtschaftsbetrug Deutschlands aufdeckte und einen Dax-Konzern zu Fall brachte. Econ Verlag, Berlin 2022, 464 Seiten
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