Der Surrealismus begann als gemeinsame Rebellion gegen all jene Mächte, die die Welt in den Krieg geführt hatten. Ein Aufstand auch gegen verlogene Religion, Demagogie, Prüderie und usurpierte Autoritäten.
Wie lebten sie wirklich, diese inzwischen so berühmten Künstlerinnen und Künstler? Desmond Morris, selbst surrealistischer Künstler, kann davon berichten wie kein Zweiter. Er gehörte zu ihrem Kreis und kannte sie alle. Ihre Vorlieben und Macken. Ihre Arbeitsweisen und ihre Geheimnisse. Ihre Freundschaften, Feindschaften, Liebschaften, Frivolitäten und dramatischen Zerwürfnisse. Er porträtiert einsame Wölfe, rebellische Vorkämpferinnen, brillante Exzentriker.
Geistreich und unterhaltsam erzählt Desmond Morris von den wirklichen Menschen, die Kunstgeschichte schrieben. Seine zweiunddreißig Lebensbilder der Surrealisten sind selbst Geschichte.
Besprechung vom 31.05.2020
Die Befreiung der Surrealisten
Desmond Morris, der einem Schimpansen das Malen beibrachte, ist Zoologe und Künstler. Und kannte viele Surrealisten noch persönlich. Endlich hat er alles, was wir über Dalí, Tanguy, Picasso oder Peggy Guggenheim nicht ahnten, in einem Buch aufgeschrieben.
Der Surrealismus erlebt in diesen Wochen ein kleines Comeback. Da ist zum einen die sogenannte Realität, die so schräg und je nach Gefühls- und Gehirnlage frei interpretierbar scheint, dass sie den Leuten immer häufiger ein resigniertes "Alles total surreal" entlockt. Und da sind die Bilder, besonders die von René Magritte, die den Wahnsinn des Moments offenbar so treffend widerspiegeln, dass man ihnen gerade andauernd begegnet. Ein Artikel über Verschwörungstheoretiker? Da passt der Mann mit Hut, aber ohne Kopf. Ein Nachdenken über unser künftiges Zusammenleben? Das illustriert man gut mit den "Liebenden", die versuchen, sich nah zu sein, trotz der weißen Laken, die ihre Gesichter verbergen. Man könnte auch Salvador Dalís dahinschmelzende Uhren oder Dorothea Tannings wütend die Tapete von der Wand reißende Mädchen nehmen oder Giorgio de Chiricos menschenverlassene Plätze - sie wirken alle wie ein Echo auf unsere geistig nicht mehr ganz klar zu fassende Zeit.
"Stimmt", meint Desmond Morris, der Maler, Zoologe und Autor des Weltbestsellers "Der nackte Affe" (1967), dessen neues Buch "Das Leben der Surrealisten" gerade auf Deutsch erschienen ist. Allerdings, so schreibt er per E-Mail, weil ihm das lieber ist, als zu telefonieren, sei es ihm nicht darum gegangen, eine irgendwie geartete Aktualität der surrealistischen Bewegung herauszuarbeiten. Er habe einfach die Geschichten, all die Dinge, die er erlebt oder gehört hat, festhalten wollen, damit sie nicht verloren gehen: "Mir ist eines Tages klargeworden, dass ich dadurch, dass ich als junger Mann mit einigen Surrealisten persönlich bekannt war, viele Anekdoten im Kopf habe und dass diese mit mir verschwinden werden, wenn ich sie nicht rechtzeitig aufschreibe." Morris, den die meisten Briten als TV-Moderator und die meisten anderen als Entdecker des malenden Schimpansen Congo oder schlicht als Autor populärwissenschaftlicher Bücher kennen, ist zweiundneunzig Jahre alt.
Gerade sitzt er in seinem Haus in einem Dorf in Kildare County in Irland und verbringt seine Tage mit Malen, Schreiben und dem Zählen der Vogelarten in seinem Garten. Die Krise, die wir gerade erleben, beeindrucke ihn nur mäßig, sagt er, immerhin habe er eine wesentlich schlimmere vor Jahrzehnten in seinem Buch "Der Menschen-Zoo" (1969) vorhergesehen: "Jede Spezies, die über einen gewissen Punkt hinauswächst, zeigt sechs Stadien der Beschädigung", heißt es dort. Das letzte ist, um es kurz zu fassen, eine Epidemie, die in den überfüllten Zentren von einem stressgeschädigten Körper auf den anderen übergreift und einen Großteil der Menschheit auslöscht. "Im Vergleich dazu ist diese Pandemie harmlos", meint Morris, "trotzdem schäme ich mich ein bisschen dafür, dass ich diese Zeit, die für viele so hart ist, so genieße." Abgesehen davon, dass die meisten Künstler und Schriftsteller das Isoliertsein berufsbedingt besser verkraften als andere Menschen, dürfte sich das dem Umstand verdanken, dass sein Kopf mit herrlich exzentrischen Figuren und unterhaltsamen Geschichten gefüllt ist. Einige davon teilt er jetzt in seinem Buch.
"Das Leben der Surrealisten" ist keine der in den letzten Jahren so beliebten Kollektivbiographien, kein bisschen wie, sagen wir, das sehr tolle "Modernists & Mavericks" von Martin Gayford oder das etwas weniger gelungene "Ninth Street Women" von Mary Gabriel. Morris verwebt die einzelnen Lebensgeschichten nicht zu einem romanhaften Ganzen, konzentriert sich nicht auf eine bestimmte Phase, sondern schreibt sachlich und knapp gehaltene Kurzbiographien, von der Geburt bis zum Tod. Das klingt trocken (zumal man insgeheim glaubt, das Leben der meisten Figuren auswendig zu kennen), ist es aber erstaunlicherweise nicht.
Zum einen, weil sich die Geschichten zwangsläufig doch kreuzen, etwa 1941 am Hafen von Marseille, als alle nach New York flüchten wollen. Oder bei den Frauen, die sich einige über die Jahre hinweg teilen. Zum anderen, weil Morris von innen heraus und deshalb besonders detailreich erzählt. Er ist nämlich nicht nur Wissenschaftler und Autor, sondern eben auch Surrealist. Manche sagen, der Letzte seiner Art: "Ich habe immer ein Doppelleben geführt, zwischen dem objektiv-rationalen Denken der Wissenschaft und dem subjektiv-irrationalen der Kunst. Ich bin zwei Menschen in einem Körper."
Als junger Mann, in den vierziger Jahren, gehörte der Brite zu den "Birmingham Surrealists" um Conroy Maddox und stellte neben Joan Miró in E. L. T. Mesens' London Gallery aus. Später, da war er bereits ein bekannter Zoologe, führte er Miró zusammen mit ihrem gemeinsamen Freund, dem Künstler Roland Penrose, und dessen Frau, der Fotografin Lee Miller, durch den Londoner Zoo und machte den offenbar hocherfreuten Spanier mit einem Nashornvogel und einem Chamäleon bekannt. Am Schluss, so beschreibt Morris es sehr lustig in seinem Buch, legte er dem kleinen Mann als Überraschung eine Python um den Körper: "Zwischendurch schoss mir der Gedanke durch den Kopf, ich könnte mich verkalkuliert haben und Miró, der sich 1964 bereits in den Siebzigern befand, könnte unter dem Gewicht der Python zusammenbrechen." Miró brach zum Glück nicht zusammen und lächelte stattdessen stolz in Millers Kamera.
Mit dem Bildhauer Henry Moore, der sich selbst als Surrealist verstand, was in Morris' sympathisch-lockerer Kategorisierung genügt, um als solcher zu gelten, führte er lange Gespräche über Tierknochen, Elefantenschädel und biomorphe Formen. Francis Bacon, der laut Morris nur wegen der Homophobie des Anführers André Breton nicht in die Gruppe aufgenommen wurde, musste er einmal anlügen. Er fürchtete, dieser würde mit einem Teppichmesser auf sein eigenes Werk losgehen, würde er ihm die Wahrheit sagen: Bacon glaubte einen schreienden Pavian gemalt zu haben, tatsächlich zeigte sein Bild nur ein gähnendes Tier.
Selbst mit Pablo Picasso, den er nie persönlich kennengelernt hat, verbindet ihn eine gute Geschichte: Wie Salvador Dalí und ein paar andere Surrealisten hatte auch der spanische Meister ein Bild seines Schimpansen Congo zu Hause hängen. Als ein Journalist ihn nach dem künstlerischen Wert dieses Werks fragte, soll Picasso den armen Kerl gebissen und mit baumelnden Armen wild angekreischt haben: "Er sagte damit auf seine Art: Der Affe und ich sind im gleichen Business", meint Morris.
Seine liebste Anekdote im Buch handelt ebenfalls von Picasso: Als dieser an "Guernica" malte und seine Geliebte Dora Maar die Entstehung in Fotos festhielt, erschien Marie-Thérèse Walter, die Mutter seiner Tochter Maya, und forderte Maar auf, das Atelier zu verlassen. Der Maler bat die zankenden Damen, die Angelegenheit doch bitte vor der Tür unter sich zu regeln, was sie schließlich auch taten. Einem Freund berichtete Picasso später von dem Ereignis als "eine meiner kostbarsten Erinnerungen". "Stellen Sie sich vor", amüsiert sich Morris, "da malt er an einem der wichtigsten Friedenssymbole der Kunstgeschichte und stachelt seine Geliebten dazu an, sich zu prügeln. Welch Ironie!"
Auf die allgemein bekannte Misogynie der Gruppe, vor allem die des Oberbosses André Breton, mag Morris nicht eingehen. Die Gesellschaft sei damals eben patriarchal gewesen. Würde er in seinem Buch nicht so viele Frauen, etwa die Baroness von Freytag-Loringhoven, ins richtige Licht rücken (Duchamp hat, so heißt es heute, die Idee des Readymades von dieser exzentrischen Dame abgeschaut), man würde ihm diese Haltung ziemlich übelnehmen. So tut man es nicht.
Morris erzählt die Geschichten seiner zweiundzwanzig Protagonisten, darunter auch weniger Bekannte wie Eileen Agar oder die grandiose Leonor Fini, mit der wohlwollenden Indiskretion eines Freundes, der die Storys seiner Freunde an andere Freunde weitererzählt. Und wie sich das gehört, geht es dabei weniger um die Kunst als um intime Details. Um das Wer-mit-wem-und-wann-und-wie. So erfahren wir zum Beispiel, dass bei Roland Penrose ohne Handschellen gar nichts ging, dass Peggy Guggenheim eines Tages in einem Pariser Restaurant einen Fisch ins Gesicht geklatscht bekam, weil die Frau von Yves Tanguy nicht einsah, dass diese Mäzenin nicht nur mit ihrem Mann schläft, sondern sie auch noch beim Abendessen stört. Dass Salvador Dalí überall herumerzählte, dass er einen sehr kleinen Penis hat. Und so weiter.
Als guter Zoologe interessiert sich der Autor besonders für das Animalische im Künstler, trotzdem verkommen seine Erzählungen nie zu Tratsch. Dafür sind sie zu distanziert und auch zu komisch erzählt. Vielmehr gelingt Desmond Morris ein Kunststück, an das man anfangs keine Sekunde geglaubt hätte: Er befreit den Surrealismus und die Surrealisten von all den kitschigen Vorstellungen, die sich mit den Jahren zwangsläufig über die Bewegung gelegt haben, und schafft es tatsächlich, einen neu zu begeistern für das Leben und Lieben dieser Männer und Frauen, die eine neue Sprache für eine neue Welt suchten.
ANNABELLE HIRSCH
Desmond Morris: "Das Leben der Surrealisten", übersetzt von Willi Winkler. Unionsverlag, 352 Seiten
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