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Besprechung vom 05.10.2022
Es fehlt der historische Sinn für das Grundgesetz
Dieter Grimm erläutert den hohen Stellenwert des Bundesverfassungsgerichts für die deutsche Geschichte
Kaum jemand hat die Interdependenzen von Rechts- und Geschichtswissenschaft so tiefgründig reflektiert wie der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Dieter Grimm. Beide Disziplinen forderte er dabei in ihrem Selbstverständnis heraus. Einerseits betonte er stets, die Rechts- und Verfassungsgeschichte sei nicht, wie üblich, als introvertierte Geistesgeschichte, sondern als "Realgeschichte" - mit starkem Bielefelder Einschlag - zu schreiben. Andererseits hielt er der Geschichtswissenschaft wiederholt wie vehement vor, sie trage der Bedeutung des Rechts für die moderne Gesellschaft nicht hinreichend Rechnung. Selbst ein Polemiker vom Rang Hans-Ulrich Wehlers musste einst konzedieren, ebendiese Kritik an seiner "Gesellschaftsgeschichte" sei "brillant".
Im Jahr 2010 referierte Dieter Grimm in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung zur Frage, ob man die Geschichte der Bundesrepublik ohne ihre Verfassungsgeschichte schreiben könne; der Ertrag liegt nun in Form eines Buchs ausgearbeitet vor. Grimms Antwort auf die selbst gestellte Frage wird nicht überraschen: Die Bundesrepublik wird geprägt durch eine umfassende Verrechtlichung von Staat und Gesellschaft sowie deren Sanktionierung durch ein im internationalen Vergleich singulär machtvolles Verfassungsgericht. Das können die Meistererzählungen der bundesrepublikanischen Geschichte nicht außer Acht lassen, ohne ihren eigenen Anspruch zu unterlaufen.
Das tun sie allerdings: nicht nur bei Wehler, sondern auch bei Herbert und Winkler, Conze, Görtemaker und Wolfrum. Ausnahmslos diagnostiziert Grimm ein großflächiges Vernachlässigen des Verfassungsrechts. Seine eigene Darstellung holt nach, was die Historiker versäumen. Grimm führt souverän rechtswissenschaftliche, historische und politologische Perspektiven zusammen und illustriert mit argumentativer Prägnanz, wie richtungsweisend verfassungsgerichtliche Entscheidungen für zentrale Wegmarken der bundesrepublikanischen Geschichte waren.
Die gesellschaftliche Liberalisierung der späten Fünfzigerjahre etwa: Grimm hält es für verfehlt, sie ohne Berücksichtigung der Grundrechtsjudikatur des Verfassungsgerichts zu schreiben, das im - vermeintlich - berühmten "Lüth-Urteil" das vormals herrlich unpolitische Zivilrecht auf Achtung der "Wertordnung" des Grundgesetzes umpolte. Oder der Deutsche Herbst: Wie anders wäre er ausgegangen, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht in einer nächtlichen Eilentscheidung abgelehnt hätte, die Bundesregierung zur Rettung Hanns-Martin Schleyers durch Gefangenenaustausch zu verpflichten. Bei den genannten Historikern liest man davon, wie Grimm erstaunt registriert - nichts.
Immer wieder stellt Grimm die strukturelle Offenheit des Verfassungstextes, der selten klare Antworten auf die aufgeworfenen Fragen präjudiziert, heraus; und immer wieder rügt er die Historiker dafür, verfassungsgerichtliche Entscheidungen, so sie überhaupt Erwähnung finden - zumeist tun sie das nicht -, aus der Ex-post-Perspektive als einzig möglichen Ausgang des Verfahrens darzustellen. Gerade die Zeitgeschichte weist kaum Bewusstsein für die Historizität zentraler Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf - als wären diese von ahistorischer Gültigkeit und nicht vielmehr durch ihren politisch-sozialen Kontext geprägt, den zu entziffern gerade eine historiographische Aufgabe ersten Ranges sein müsste.
Die Ursache des Problems scheint schnell gefunden: Die Historiker lesen die Entscheidungsgründe nicht. Was also tun? Für Grimm ist die Sache klar: Es brauche einen "constitutional turn" in der zeithistorischen Forschung. "Die Relevanz von Verfassung und Verfassungsrechtsprechung für den ihr eigenen Gegenstand muss ins Bewusstsein gehoben werden." Diese Empfehlung genügt nur, wenn man, wie Grimm, davon ausgeht, der defizitäre Status quo beruhe wesentlich auf einem "Wahrnehmungsproblem" und habe mit Verständnisschwierigkeiten nichts zu tun. Das unterschätzt jedoch die Folgen der relativen Autonomie des modernen Rechts, die Grimm selbst - ersichtlich von Luhmann geprägt - mehrfach herausstellt.
Die Nichtachtung des Verfassungsrechts dürfte weniger auf der Ignoranz der Historikerzunft denn auf der epistemischen Abkapselung des Juristenstands beruhen. Auch Wehler hatte sich seinerzeit unter Verweis auf die "eigene, komplizierte Fachsprache" der Juristen entschuldigt. Die Entscheidungsgründe nur zu lesen reicht nicht, man muss sie auch verstehen können. Das von der zeithistorischen Forschung einzufordern heißt, ihr jene Fertigkeiten abzuverlangen, die in langen Jahren der juristischen Ausbildung mühsam erlernt werden müssen.
Der "constitutional turn" der Zeitgeschichte wird daher nur im Verbund mit rechtswissenschaftlicher Forschung, die sich ihrerseits für die Historizität verfassungsgerichtlicher Entscheidungen öffnen muss, gelingen. Die Staatsrechtslehre hat jüngst einiges zur wissenschafts- und verfassungshistorischen Lage der Bonner Republik hervorgebracht. Aber die monographische Aufarbeitung der "Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes" fehlt, wie Grimm, der selbst nur einen lückenhaften "Beitrag" zu ihr liefern möchte, anmerkt.
Könnte solch ein anspruchsvolles Unternehmen überhaupt gelingen? Grimm verweist bejahend auf Justin Collings' vor einigen Jahren erschienenes Buch zur Geschichte des Bundesverfassungsgerichts. Dass die erste gehaltvolle historische Studie zum deutschen Verfassungsgericht von einem amerikanischen Rechtshistoriker stammt, ist kein Zufall. Das geltende Verfassungsrecht auf die politisch-sozialen Bedingungen seiner Genese zu befragen widerspricht der Eigenlogik einer Disziplin, die ihren wissenschaftlichen Anspruch nach klassischem Verständnis auf die streng dogmatische Bearbeitung des Verfassungsrechts unter Ausblendung politisch-sozialer Kontexte gründet. Dieter Grimm hat sich dieser Logik nie gefügt. Die Scharfsinnigkeit seines Werkes verpflichtet nicht nur die Zeitgeschichte zu einem "constitutional turn", sie verpflichtet in gleichem Maße die Staatsrechtslehre zu einer historischen Wende. TRISTAN WISSGOTT
Dieter Grimm: "Die Historiker und die Verfassung". Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 358 S., geb.
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