Besprechung vom 26.10.2023
Flirten und Küssen lernt man in der Weltliteratur
In Elif Batumans neuem Roman "Entweder / Oder" zeigt sich die Kunst der Verpackung
Ein Hoch auf den Klappentext! Ein wenig Inhalt steht dort gut, vor allem aber soll er werben, einnehmen, verführen. Der Klappentext zu Elif Batumans neuem Roman "Entweder / Oder" gehört in seiner Kategorie zum Besten der letzten Zeit. Die Protagonistin Selin "leidet unter Liebeskummer, möchte Schriftstellerin werden und nimmt seit Kurzem Antidepressiva. So weit, so normal." Sie neige dazu, "alles zu zerdenken", beispielsweise was "das soziale Konzept einer Party" oder warum "Sex eigentlich so erstrebenswert" ist. Das klingt wunderbar nach Ironie und Understatement, nach einem Feuerwerk an Pointen und vielleicht einigen anregenden Beobachtungen, das nimmt ein und verführt. Das Ankommen in der Lektüre ist dann leider ein unsanftes. Der Klappentext war das einzig Gute an diesem Werk.
"Entweder / Oder" knüpft nahtlos an den Vorgängerroman "Die Idiotin" an, dessen Kenntnis aber keine Voraussetzung ist. Selin will 1996 in ihrem zweiten Uni-Jahr in Harvard endlich Beziehungen und Affären haben, all das mit diffus vorhandenem, jedoch nicht artikuliertem feministischen Bewusstsein. Die Autorin räumt selbst ein, Adrienne Richs 1980 erschienenen Essay "Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz" erst 2017 gelesen zu haben. Im gleichen Jahr kam die MeToo-Bewegung in Gang. Batuman ist damals vierzig gewesen. Vielleicht spielen hier wenige Jahre eine entscheidende Rolle, denn wer etwas älter ist, hat damals sicher "Das andere Geschlecht" gelesen, Märta Tikkanens "Wie vergewaltige ich einen Mann?", Anja Meulenbelts "Die Scham ist vorbei" oder viele, viele andere. Sie alle hätten der Studentin Selin auf Englisch vorgelegen.
Das führt zum ersten Problem dieser Figur. Wenn immer wieder behauptet wird, sie sei eine verkopfte denkerprobte Frau, warum bleibt es dann bei rein zufälligen Lektüren? Warum stellt sie sich dann nicht einmal die Frage, was ihr bei den Texten von Männern fehlt? Mit viel gutem Willen lässt sich die eingeschränkte Sicht noch auf die Scheuklappe zurückführen, die ihr vom Patriarchat aufgesetzt wurde. Leider ist die Ich-Erzählerin noch aus weiteren Gründen unglaubwürdig.
Der Titel ist eine Hommage an Sören Kierkegaards gleichnamiges Werk. Ausgehend von dessen Unterscheidung in ein ethisches und ästhetisches Leben, optiert ihre Freundin Swetlana für Ersteres, "während ich interessante Liebschaften vorzog, über die ich schreiben konnte". Dass sie das noch vor dem ersten Kuss ihres Lebens sagt - gut, das mag als Gegenkonzept zur Kopflastigkeit durchgehen. Irgendwann liefert aber auch der beste Wille keine Erklärung mehr für die Motive dieser Figur. Selin liest Weltliteratur als Flirtfibel und Ratgeber als Weltliteratur. Der erste Kuss wird nach Anleitung aus einer Zeitschrift absolviert. "Eine Hand sollte man ihm um den Hals legen, die andere auf seine Brust." Für spätere Bettszenen gibt es ebenfalls Tipps, nicht zuletzt solche aus "Sex and the City". Doch als das Vorspiel zum Entzücken des Mannes bei Selin entsprechende Körperflüssigkeiten freisetzt, kann diese nur sagen: "Ich verstand nicht, was er meinte, bis er es mir zeigte. Danach zerfloss mir auch noch das Herz."
Hier liegt das eigentliche Problem dieses Romans. Batuman baut ihre Figur als große Naive aus einer gut situierten Familie auf, die aus der Türkei nach Amerika eingewandert und durch und durch säkular ist. Erziehung und Lektüre haben bei ihr nichts hinterlassen. Gleich Candide wandert sie mit sehr großen, sehr staunenden Augen in die Welt hinaus. Und obwohl Selin es ist, die in Feldstudien Männer ausprobiert, um damit eine Typensammlung für einen Roman zu haben, kleidet Batuman ihre Figur ins Gewand der verführten Unschuld.
Es ist dann wieder das Buch eines Mannes, Henry James' "Bildnis einer Dame", das sie erkennen lässt, dass die kanonisierte Literatur für Frauen nur konventionelle Muster bereithalte. Doch niemand "würde mich austricksen und dazu bringen, irgendeinen Loser zu heiraten, und selbst wenn das geschähe, würde ich das verdammte Buch selbst schreiben".
Diese Selbstreferenz mag zum Schlagwort der Selbstermächtigung passen. Für knapp vierhundert Seiten tagebuchartiger Einträge zu Themen wie Orgie, Charisma, Vokalmusik, Grausamkeit, Beziehungen, Freundschaft und dergleichen ist die Pointe allzu dürftig. Selin bleibt eine Frau, die einzig enzyklopädische Wissensbrocken abgespeichert hat. Dass Finnisch eine agglutinierende Sprache ist, mag sich ebenso für Partyplaudereien eignen wie die Aussage, die Kartoffel sei eine Sprossknolle, hat mit Lebensklugheit oder Bildung aber nichts zu tun. Als Bildnis einer Studentin ist das deprimierend. CHRISTIANE PÖHLMANN
Elif Batuman: "Entweder / Oder." Roman.
Aus dem Englischen von Claudia Wenner. Verlag C. H. Beck, München 2023. 396 S., geb.
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