Seit dem Tod seiner Mutter lebt Torleif weit weg von seiner Familie in der Großstadt, wo er das Gefühl hat, endlich er selbst sein zu können. Doch als sein Großvater krank wird, muss Torleif zurückkehren - in sein Heimatdorf, wo seine Begeisterung für Musik als "unmännlich" belächelt wird und "schwul" noch als Schimpfwort gilt. Auch sein Vater und sein Bruder interessieren sich mehr für die Elchjagd als für Torleifs Leidenschaft, die Hardangerfiedel. Nur in der Geigenbauwerkstatt des Großvaters und in der örtlichen Musikschule findet er Zuflucht - bis er auf den japanischen Austauschstudenten Horimyo trifft und all die ungesagten Dinge drohen, an die Oberfläche zu treten.
Besprechung vom 22.03.2025
Kein besseres Diagnosemittel als die Musik
Elin Hanssons Roman "Zweiklang" schildert die Rückkehr eines schwulen Musikers in das norwegische Dorf seiner Kindheit.
Von Anna Nowaczyk
Von Anna Nowaczyk
Die Hardangerfiedel ist ein vielschichtiges Instrument. Bis zu fünf Resonanzsaiten aus Metall schwingen mit, wenn der Bogen über die oben liegenden Melodiesaiten streicht, verändern ihren Klang, verleihen ihm Hall, fächern ihn auf. Torleif weiß das. Schließlich ist er ein erfahrener Hardangerfiedler. Seit zwei Jahren besucht er ein Musikinternat in der Stadt und übt täglich. Mit Resonanzen kennt er sich also bestens aus. Und so zögert er, als sein Vater ihn bittet, über die Herbstferien nach Hause zu kommen. Sein Opa habe einen Schlaganfall erlitten, jemand müsse sich um ihn kümmern. Eine Fahrt mit dem Expressbus, ein paar Tage in der Heimat - eigentlich nicht zu viel verlangt. Doch etwas schwingt mit: Die Erinnerung an den Tod seiner Mutter, das abgekühlte Verhältnis zu Bruder und Vater. Und nicht zuletzt die große Angst, dass irgendjemand in seinem Heimatdorf herausfinden könnte, dass er schwul ist.
Mit "Zweiklang" hat die norwegische Autorin Elin Hansson ein Buch geschrieben, das weniger durch seine Handlung als durch seine Schauplätze, Charaktere und Begleitmelodien besticht. Die sind schon abrufbar, bevor die Geschichte überhaupt beginnt: ein QR-Code verweist auf eine Spotify-Playlist, die von norwegischer Hardangerfiedelmusik bis zu Joni Mitchell reicht. Tatsächlich hilft sie, den Protagonisten zu verstehen. Denn Torleif denkt in Musik. Die Fiedel nutzt er als steten Referenzpunkt, um die Welt um sich herum zu erklären. Das Schweigen mit seinem Opa beschreibt er als "Samtbezug in einem Geigenkoffer", Gespräche mit seinem Bruder, der lieber (Jagd-)flinte statt Fiedel anlegt, hingegen als verstimmte Geige. Musik sei wie Strahlung, denkt er einmal, sie finde alle Tumore in ihm.
Es sind eigenwillige Sprachbilder, die Hansson ihrem Protagonisten zuschreibt. Doch sie passen zu Torleif. Er ist so kreativ wie sensibel und verwehrt sich gegen keines von beidem. Schon als der Bus das Ortseingangsschild passiert, will er am liebsten weinen, schluchzt hemmungslos, als er "Felefeber" hört; jenes Lied, das auf der Beerdigung seiner Mutter vor zwei Jahren gespielt wurde. Torleif hat für einen 16 Jahre alten Jungen einen bemerkenswert offenen Zugang zu seinen Gefühlen, wird oft von seiner Traurigkeit überwältigt, ohne dass man je Mitleid mit ihm haben müsste. Denn einsam ist er nicht.
Wann immer es ihm schlecht geht, ruft er seine Freunde aus der Stadt an. Zwischen ihnen und dem Alltag im Bergdorf klaffen Welten, die sich offenbaren, sobald Torleif zum Telefon greift. So sagen seine Freunde Sätze wie "No Stress, princess", befolgen 30-Tage-Yoga-Challenges und gendern, nehmen sich in den Arm und sagen sich, wie lieb sie sich haben. Auf der anderen Seite von Torleifs Realität liegt das ruhige Bergdorf, das nur für jene behaglich scheinen dürfte, die nicht als queerer Junge in ihm aufgewachsen sind. Erzählt man sich doch schon in der Fernfahrerkneipe am Ortseingang, dass in der Stadt nur "Schwuchtelkaffee" getrunken wird. Torleifs Angst - immer mehr aber auch Bedürfnis -, sich zu outen, überschattet seine Rückkehr und hängt wie ein Damoklesschwert über ihm.
Richtig wohl fühlt er sich da nur in der Hardangerfiedelwerkstatt, bei Goffa, wie er seinen Opa im lokalen norwegischen Dialekt nennt. Goffa ist gutmütig, lieb, ein einmaliger Geschichtenerzähler und noch besserer Geigenbauer. Hansson kommt mit wenigen Sätzen aus, um ihre Schauplätze zu beschreiben, doch sie reichen vollkommen, um ein Bild von der Werkstatt entstehen zu lassen. Von der Decke hängende Geigen, ein Geruch nach poliertem Holz: Es braucht nicht viel, um sich dort auch als Leser schnell wohlzufühlen. Das liegt auch an der Beziehung zwischen Großvater und Enkel, die ruhig, vertrauensvoll und warm ist.
So übernimmt Torleif auch gern die Aufgabe, Goffas frisch gefertigte Fiedel an einen japanischen Gastdozenten an der örtlichen Musikschule auszuliefern - und verliebt sich prompt. Recht aufgehen will die Liebesgeschichte jedoch nicht, vor allem weil Horimyo, der Gastdozent aus Japan, bis zuletzt ein blasser Charakter bleibt. Ein bisschen wirkt es, als diene er vor allem Torleifs Entwicklung, ihre Annäherungen und Konflikte zeichnen sich früh ab. Ganz große Überraschungen erwarten den Leser über gut 300 Seiten nicht, die Handlung nimmt gemächlich ihren Lauf. Mag das streckenweise ein wenig ermüdend sein, passt es gut zur Atmosphäre des kleinen Bergdorfes. Ihm gegenüber stellt sich zunehmend eine gewisse Wohligkeit ein, die nicht zuletzt dadurch befördert wird, dass Torleif beginnt, sich Raum zu nehmen - ohne Rücksicht auf Resonanzen.
Elin Hansson: "Zweiklang". Roman.
Aus dem Norwegischen von Meike Blatzheim und Sarah Onkels. Arctis Verlag, Zürich 2025. 320 S., geb., 19,- Euro. Ab 14 J.
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