Besprechung vom 17.09.2024
Erkundungen im Dickicht der Seele
Das unsichtbare Medaillon um ihren Hals: In ihrem Roman "Alles, was ich über die Liebe weiß, steht in diesem Buch" schickt Elke Schmitter eine Bildhauerin ins Wechselbad der großen Emotionen zwischen Bildung und Einbildung
Elke Schmitter legt ihre Protagonisten nicht eindeutig fest, belässt sie in der Schwebe ihrer Existenzen, schreibt eine Prosa der Relationen. In ihrem letzten, 2021 erschienenen Buch erzählte sie von zwei Schwestern und einem Bruder, die ihren alternden Vater besuchen, und nannte den Roman "Inneres Wetter" - eine schöne Metapher für die Meteorologie der Seelen im Hoch und Tief familiärer Beziehungen.
Diese Konstellation, oder vielleicht besser: diese Versuchsanordnung, war überschaubar. Jetzt geht Schmitter weiter und tiefer. "Alles, was ich über Liebe weiß, steht in diesem Buch": Der Titel ist erstaunlich, sein radikaler Anspruch aber verbirgt das Scheitern einer Suche.
Das zeigt schon der Anfang der Erzählung, doch zuvor sei etwas zur Form des Buches gesagt. Es besteht aus zwei Teilen, dessen erster eine Mischung von Erzählung und Wissenschaft ist: Dem laufenden Text sind Fußnoten beigegeben, die teils länger sind als der Text selbst und Ergebnisse der Forschung bereitstellen. Der zweite Teil ist ein Tagebuch (oder ein chronologisch geordneter innerer Monolog, Schmitter lässt das offen) und hat noch ein anderes, später zu erwähnendes Merkmal.
Es sind drei verschiedene Anfänge, die Schmitter erwägt: Liebe auf den ersten Blick, die wie ein Offenbarungsblitz in zwei Menschen einschlägt und sicherlich sehr schön ist, den Niederungen der irdischen Wirklichkeit aber besser nicht ausgesetzt wird. Oder Liebe als ein Akt der Selbstbefreiung aus der Tretmühle der Normen, eine Reise in das Land der unbekannten Möglichkeiten. Auch zu dieser Reise, so verlockend sie sein mag, kann sich Elke Schmitter nicht entschließen. Sie zieht einen dritten Anfang vor.
Ein Mann wählt eine Frau fast ohne Worte, und da der Roman die Folgen beschreibt, die daraus entstehen, wollen wir den Augenblick dieses Anfangs etwas näher betrachten. Er findet auf einer Party statt und ist tatsächlich ein Augenblick. "Sie lehnt an einer Wand", schreibt Schmitter, "er sitzt auf einem Sofa und schaut sie an; nicht penetrant, aber doch länger und unverwandter, als könnte es Zufall sein."
Die Frau, die so angeschaut wird, ist eine Bildhauerin, sie heißt Helena, und wir werden sie ausgiebig kennenlernen. Denn sie ist die Ich-Erzählerin des Buches, ihr widerfährt die Liebe, die in seinem Titel steht. Helena spürt den Blick, aber zunächst geschieht nichts. Jedenfalls nicht bei ihr, denn zurzeit hat sie keine erotischen Bedürfnisse und bleibt ganz ruhig. Doch "plötzlich stand er neben mir", heißt es dann, "während ich mit dem Gastgeber sprach und der uns einander vorstellte, ich aber nur den Vornamen verstand". Sie gehen wieder auseinander, Helena langweilt sich auf der Party und will schon gehen, "als er, leise und plötzlich, wieder neben mir stand, da ich nach meinem Mantel griff und, um nicht unhöflich oder schroff zu erscheinen, nach dem Weg zur U-Bahn fragte". Er begleitet sie dorthin, und schon im nächsten Absatz heißt es: "Am nächsten Morgen eine Mail mit Fotos von dem Fest; nicht zu lang, nicht zu kurz, geradezu comme il faut. Die Frage, ob man mal einen Kaffee trinken wolle . . ."
Das ist schon deshalb merkwürdig, weil vorher nirgends gesagt wird, dass sie ihre E-Mail-Adressen ausgetauscht hätten. Übrigens heißt er Levin und ist Musiker.
Wie dem auch sei: Helena verliebt sich, mit Levin erlebt sie das Glück ozeanischer Grenzenlosigkeit, wie es bei Freud heißt, und Schmitter stellt das meisterhaft dar. Aber das Glück ist nur kurz, bald erweist Levin sich als erschreckend kleinlich, er kann es nicht ertragen, dass Helena einmal einen anderen Mann gekannt hat, und nicht einmal intim. So schnell, wie er sich in ihrem Leben eingenistet hat, zieht er sich auch wieder zurück.
Da sind wir etwa auf Seite 140, und das ist schon die ganze Geschichte. Im Verhältnis zwischen Helena und Levin wird sich nichts mehr ändern, jedenfalls nicht äußerlich, und das ist gut so. Denn jetzt gewinnt dieses Buch über die Liebe an Tiefgang. Der Leser wird in das Dickicht der Seele geführt, und eine Rezension kann nur einige Spuren verfolgen, die Elke Schmitter gelegt hat.
Mit dem Rückzug Levins endet der erste Teil des Buches, und sein Untertitel, "Ein Bildungsroman", ist ein schönes Wortspiel. Denn nicht die Protagonisten "bilden" sich hier, wie es das Genre verspricht, weder Helena noch Levin, sondern der Gegenstand des Buches: die Liebe. Schmitter beschreibt, wie sie in Helena aufblüht und Helena in ihr; die Autorin zeigt, wie die Blüte welkt, als Levin sich zurückzieht, und lässt Helena gegen dieses Welken ankämpfen, solange die Kräfte reichen.
Der zweite Teil des Buches heißt "Einbildungsroman", und auch dies ist ein schönes Wortspiel. Es weist auf den Irrgarten hin, in dem Helena ihre Orientierung zu verlieren droht. "Gestern um 11.30 kam die Nachricht, vor der ich nicht geflohen bin", lesen wir unter dem 4. April 2023, drei Monate nach dem Rückzug Levins. "Und sie hatte es leicht; mit Morphium." Mit zwei lakonischen Sätzen registriert Helena den Tod ihrer Mutter, dann wendet sie sich wieder dem Hauptgeschäft zu - ihrer Sehnsucht nach Levin.
Die Liebe als Krankheit: Das Thema findet sich oft in der Literatur, und wie Spiegelbilder stehen den Gedankensplittern Helenas im zweiten Teil des Buches die Briefe gegenüber, die die französische Salonnière Julie de Lespinasse an ihren treulosen Geliebten richtet. Sie entstehen im Jahre 1775, und kurz zuvor erdichtet Goethe den berühmtesten Liebeskranken der deutschen Literatur. Der junge Werther überlebt bekanntlich die Krankheit nicht, doch in den Tod geht er allein. Die Frau, die er liebt, ist mit dem soliden Albert verheiratet, der seine Lotte in der Katastrophe aufzufangen weiß. Die Heirat hat sie einst ihrer sterbenden Mutter versprochen, und ihr Gelübde am Totenbett rettet Lotte vielleicht das Leben.
Auch Helena wird am Ende überleben und sogar gesunden, doch es ist ein langer Weg. Das Scheitern ihrer Liebe ist auch eine Tragödie, und Tragödien haben Gründe, die auf den ersten Blick nicht immer sichtbar sind. "Nach dieser ersten Schöpfungswoche eines Paares", heißt es einmal - warum aber wird diese Eva aus ihrem Paradies vertrieben?
Weil sie ihre Mutter nicht geehrt hat und eines der Zehn Gebote übertritt? Vielleicht auch deswegen, aber da ist noch mehr. Helena ist Bildhauerin, und im Alten Testament gilt das Bilderverbot. Das weiß Helena sehr wohl, und an einer Stelle steht der Satz: "Sie sollen sich kein Bildnis machen." Nur verwendet sie ihn falsch, denn es folgen die Worte: "Das liegt noch in dem unsichtbaren Medaillon um meinen Hals, der sich stolzer reckt, seit wir uns kennen."
Es war Gott, der das Verbot ausgesprochen hat, und Helena übertritt es, indem sie den armseligen Levin an Gottes Stelle setzt. Die Spur führt bis ans Ende des Buches, und kurz davor, als Helena sich bereits aus ihrer Not befreit hat, sieht sie Levin ein letztes Mal durch eine Fensterscheibe. Er weiß, dass sie ihn sieht, sitzt völlig verklemmt und "steif gefroren auf seinem Stuhl wie eine Giacometti-Figur".
Die hageren Skulpturen des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti erinnern an Strichmännchen, und Helenas Assoziation ist keineswegs als Kompliment gedacht. Wir sind, wie gesagt, schon fast am Ende des Buches, und dort wird uns noch einmal die Paraphrase eines Satzes aus dem Alten Testament begegnen. Doch den verraten wir hier nicht. JAKOB HESSING
Elke Schmitter: "Alles, was ich über Liebe weiß, steht in diesem Buch". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2024. 352 S., geb.
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