
Für Ernesto de Martino ist die Magie weder ein einziger großer Irrtum noch etwas in der Evolution unserer Gesellschaften Überwundenes, sondern beschreibt das für die Menschwerdung unabdingbare existenzielle Drama, das einen über Gegenstände vermittelten Bezug von Ich und Welt überhaupt erst ermöglicht. Dabei lauert der Zusammenbruch der Ordnungen, die von de Martino sogenannte Krise der Präsenz, auch in der zeitgenössischen, modernen Welt. Was aber folgt daraus, wenn man die in Ritualen von Magiern und Schamanen formulierten Ansprüche ernst nimmt?
Ernesto de Martino schrieb dieses Buch rund um Europas Stunde Null, in der Hoffnung auf eine »umfassende Befreiung des Geistes«. Mit ungekannter Radikalität stellt seine umfangreiche, 1948 erstmals erschienene Studie die Frage nach der Rolle der Magie in der Geschichte der Menschheit. Mit dieser um Selbstaussagen und Rezeptionszeugnissen angereicherten Ausgabe wird ein Klassiker nicht nur der italienischen Kulturtheorie erstmals in Deutschland zugänglich.
Besprechung vom 09.10.2025
Die Geister dürfen's richten
Was will denn das besagen? Nach mehr als siebzig Jahren erscheint Ernesto de Martinos Verteidigung der Magie auf Deutsch.
Die Rezeptionsgeschichte wissenschaftlicher Theorien schlägt manchmal seltsame Kapriolen. Mehr als siebzig Jahre nach Erscheinen der italienischen Erstauflage erscheint nun die erste deutsche Übersetzung von Ernesto de Martinos Abhandlung über die "Welt der Magie". Der Autor hat durchaus seine Verdienste. Seit den Dreißigerjahren unternahm er verschiedene "Expeditionen" nach Apulien und Lukanien, um die Trauerrituale und Klagepraktiken der dortigen ländlichen Bevölkerungsschichten zu untersuchen. Aufsehen erregten aber vor allem seine viele Jahre später unternommenen Forschungen über den Tarantismus: ein in Süditalien verbreitetes trancehaftes Tanzritual, das angeblich durch den Biss einer Tarantel ausgelöst wird. Seinen ethnographischen Pionierstudien im eigenen Land verdankt er den Ruf, die italienische Kulturanthropologie neu begründet zu haben.
Die im Original 1948 erschienene "Magische Welt" gilt als de Martinos theoretisches Hauptwerk. Bei der Lektüre des Buchs überrascht allerdings, wie sehr es auch damals schon aus der Zeit gefallen war. Methodisch ist es noch weitgehend dem Vorgehen der Gründungsväter der Ethnologie verpflichtet, die wie Henry Lewis Morgan, Edward B. Tylor oder Herbert Spencer die Berichte von Forschungsreisenden und Missionaren nach Belegstellen für ihre evolutionistischen Theorien durchsuchten. De Martino verfährt nicht viel anders, wenn es um seine Zusammenstellungen weltweit verbreiteter magischer Vorstellungen und Handlungen geht. Oft übernimmt er die entsprechenden Zitate auch nur aus den bereits vorliegenden religionsethnologischen Kompilationen. An neuerer Literatur zieht er auffällig häufig die Erfahrungsberichte der Schüler des in Freiburg Theologie lehrenden Pater Wilhelm Schmidt heran, die von diesem als Missionare zu den "Naturvölkern" Afrikas, Südamerikas und Melanesiens geschickt wurden, um anhand ihrer Glaubensvorstellungen den Nachweis dafür zu erbringen, dass Gott sich einst allen Menschen offenbart habe. Ähnlich wie P. W. Schmidt um den Beweis der Existenz Gottes geht es de Martino um den Beweis für die Universalität und Gleichförmigkeit des magischen Denkens. Die Phänomene aber, auf die er sich dabei stützt, gehören nahezu alle dem Bereich des sogenannten Übersinnlichen an.
Besonders fasziniert zeigt er sich bei seiner Suche nach der Omnipräsenz des Magischen vom rituellen Feuerlauf, der bei seinen Teilnehmern keinerlei Blessuren hinterlässt. Er findet sich bei den damals als Prototyp des "primitiven Menschen" angesehenen Fidschi-Insulanern ebenso wie in der hochkomplexen balinesischen Kultur, wo das Laufen über glühenden Kohlen heute zu einer vielbestaunten Touristenattraktion geworden ist. Eine wahre Fundgrube für paranormale Phänomene stellt für ihn der Schamanismus dar, wie er in den klassischen Studien von Shirokogoroff für Sibirien, von Bogoraz für die amerikanische Nordwestküste und von Rasmussen für die grönländischen Inuit beschrieben worden ist. Ob die zum Eintauchen in die Jenseitswelt verwendeten Ekstasetechniken, die Himmels- und Unterweltfahrten, die Beschwörung und Befragung der Geister Verstorbener, die magischen Heilungsrituale, Zukunftsvoraussagen und anderes mehr: De Martino beschreibt sie alle und vergleicht sie mit entsprechenden modernen Praktiken wie etwa dem Blick in die Kristallkugel oder dem Herbeirufen der Geister Verstorbener bei spiritistischen Sitzungen.
Nun ist es keineswegs so, dass er das alles für bare Münze nimmt, was er in der entsprechenden Literatur findet oder bei seinen Aufenthalten im Mezzogiorno selbst hat beobachten können. Ausführlich werden einzelne Fälle diskutiert und auch mögliche rationale Erklärungsmodelle herangezogen, wobei er sich allerdings immer wieder gegen deren "naturalistische" und "szientistische" Weltauffassung verwahrt. Nach kritischer Prüfung der von ihm herangezogenen Beispiele gelangt er dann meist doch zu dem Schluss, dass die von ihm diskutierten paranormalen Phänomene Beweise seien für die Wirksamkeit der Magie. Damit nicht genug, bekennt er offen, dass auch er selbst schon Erfahrungen im Hellsehen, der Gedankenübertragung, der Telekinese und dem Vorausahnen künftiger Ereignisse gemacht habe.
Die Beschäftigung mit magischen Vorstellungen und Praktiken kann in der Geschichte der Ethnologie und Religionswissenschaft auf eine lange Tradition zurückgreifen. Sie stellt insbesondere in den Schriften der eingangs genannten Evolutionstheoretiker ein zentrales Thema dar. James Frazer etwa hat dem Fortschritt von der Magie über die Religion zur Wissenschaft sein Lebenswerk gewidmet, darunter auch sein ab 1890 erschienenes zwölfbändiges Hauptwerk "The Golden Bough". De Martino widerspricht der Einordnung der Magie als der primitivsten Vorstufe auf dem Weg zu den erst mit der westlichen Zivilisation erreichten Erkenntnissen der Naturwissenschaften und ihren technischen Anwendungen. Für ihn stellt die magische Welt einen eigenen Wirklichkeits- und Wirksamkeitsbereich dar, der seinen eigenen Gesetzen folgt und als gleichberechtigt mit dem rationalen "Naturalismus" angesehen werden müsse. Das alles wird von ihm in eine sich auf seinen Lehrmeister Benedetto Croce und Heideggers Ontologie berufende verquaste Philosophie eingebaut, in deren Mittelpunkt der von ihm geprägte Begriff der "Präsenz" steht.
Das vorliegende Buch ist sorgfältig ediert. Neben der Übersetzung selbst enthält es den Kommentar eines zeitgenössischen italienischen Philosophen, ein mit de Martino wenige Monate vor seinem Tod geführtes Interview und eine Einführung in sein Werk, die der Übersetzer und Initiator des Publikationsvorhabens, Ulrich van Loyen, verfasst hat. Die grundsätzliche Frage aber bleibt, welche Zeitumstände den Verlag dazu bewogen haben, seinen Lesern nach so vielen Jahren das Werk eines nahezu vergessenen italienischen Kulturanthropologen und Philosophen zugänglich zu machen. Ist es womöglich der Siegeszug der Künstlichen Intelligenz mit ihren sprechenden Avataren und anderen geisterähnlichen Wesen, der uns das Gefühl gibt, uns auf dem Weg in ein neues Universum magischer Identitäten zu befinden? Mithin die Wiederverzauberung der Welt, die heute auf den von Max Weber diagnostizierten Prozess ihrer Entzauberung durch die Fortschritte der Naturwissenschaft und Technik zu folgen scheint? KARL-HEINZ KOHL
Ernesto de Martino: "Die magische Welt". Prolegomena zu einer Geschichte der Magie.
Hrsg. und aus dem Italienischen von Ulrich von Loyen. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2025. 388 S., geb.
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