Besprechung vom 12.10.2024
Kein Wunsch an die Windsbraut wird offengelassen
Blättern empfohlen: Ernst Strouhal lädt zu einem lehrreichen wie unterhaltsamen Lektüreparcours mit mancher Überraschung.
Von Daniela Strigl
Von Daniela Strigl
Hat James Joyce 'Finnegans Wake' jemals gelesen, Arno Schmidt 'Zettels Traum' oder etwa Thomas Pynchon 'Against the Day', in der deutschen Übersetzung immerhin 1596 Seiten?" Ernst Strouhal bezweifelt das. "Sie haben wohl darin geblättert, vielleicht stolz, vielleicht mit katerhafter Zufriedenheit oder verzweifelt." Der Essay "Über das Blättern" findet sich an zentraler Stelle des wohlbeleibten Bandes und ist für den Autor wohl auch von zentraler Bedeutung. Der Untertitel "Verzetteltes Schreiben, zerstreutes Lesen" deutet einerseits auf eine Kulturtechnik, mit der der Essayist naturgemäß sympathisiert, obwohl oder gerade weil sie gemeinhin scheel angesehen und für das Inbild des Oberflächlichen gehalten wird.
"Mit dem Daumen zu lesen" gesteht auch ein Romanheld des Enzyklopädisten Diderot, und Strouhal interpretiert diese Strategie der Inkonsequenz als Auflehnung gegen das lineare Prinzip, bringt sie aber auch mit zwei Bereichen in Zusammenhang, denen sein besonderes Forschungsinteresse gilt: mit dem Spiel und mit der Magie. Das Durchblättern und zufällige Aufschlagen des Buches gibt einen spielerischen Parcours vor, wie er sich zum Beispiel in Andreas Okopenkos "Lexikonroman" (1970) verfolgen lässt, der das zerstreute und verzweigte Lesen lange vor der Online-Verlinkung verlangt hat. Auch viele Künstlerbücher, für die der Professor für Kulturwissenschaft an der Wiener Universität für Angewandte Kunst ein Faible hat, kalkulieren mit dem Charme des Zufalls. Der "gedäumelten" Seite wird bisweilen magische Aussagekraft zugeschrieben, und der "säkulare" Zauberkünstler arbeitet mit dem Aufdecken von Spielkarten.
Mit seiner Ehrenrettung des Blätterns verteidigt Ernst Strouhal auch die umherschweifende, die nicht zielgerichtete Textproduktion, rühmt er das Sich-Verzetteln als Grundprinzip des Essays und das Wunder der Serendipität, der überraschenden Entdeckung. Weil der Autor unverkennbar in eigener Sache spricht, darf man den vorliegenden Band selbst als eine Einladung zum Blättern und Gustieren verstehen. Bei aller Nonchalance beeindruckt wie stets Strouhals weitgefächerte Belesenheit, geblättert wird von Lawrence Sterne bis Wittgenstein, von Grimmelshausen bis Maria Stepanova.
Die mehr als dreißig Beiträge aus den letzten fünfzehn Jahren, nicht nur "Essays und Reportagen", hat der Autor neu durchgesehen. Der Lektüreweg führt tatsächlich "Über kurz oder lang", von der ausführlichen Abhandlung über Vignetten, historische Miniaturen und Glossen zum vierstrophigen Nonsense-Gedicht. So bringt die Auswahl die vielen Facetten des Essayisten zur Geltung, der zuletzt mit "Vier Schwestern", einer - seiner - Familiengeschichte, von sich reden machte: den Spieltheoretiker und Schachhistoriker, den Spaziergänger, Reisenden und Beobachter, den unorthodoxen Denker und vor allem: den mühelos glänzenden Stilisten.
Dabei verfügt Ernst Strouhal vermutlich über eine Art Detektor, der ihm besondere Menschen und Geschichten anzeigt. Wo sonst könnte man Bekanntschaft mit einer Brückensammlerin schließen, einer Frau, die echte Brücken abmontieren und in ihr steirisches Brückenbaumuseum bringen lässt. Ein besonderer Mensch und brillanter Querkopf war auch der Philosoph Rudolf Burger, als dessen Assistent Ernst Strouhal sich kuriosen Kaffeehausritualen zu unterwerfen hatte.
Schier unglaublich klingt die Geschichte "Catherine und Alexander. Eine Liebe in Wünschen": Strouhal erzählt von Briefen des ehemaligen schottischen Kindermädchens Alexanders II., die ihm eine Nachfahrin zur Verfügung gestellt habe. Catherine sei von den Hebriden nach St. Petersburg gekommen und zur Vertrauten des Zarewitsch geworden, der ihr bei ihrem Abschied auftrug, ihm jährlich einen Geburtstagswunsch zu senden. Der Zar habe auf Gälisch geantwortet, Catherines kleine und große Wünsche seien unter der Regie des Geheimpolizeichefs Schuwalow auf unheimliche Weise erfüllt worden. An Catherines Grab habe Alexander "mit fester und trauriger Stimme" ein gälisches Kirchenlied zum Besten gegeben.
Kann es sein, dass uns ein honoriger Professor hier einen russischen Bären aufbindet? Das ist nicht nur denkbar, sondern sogar wahrscheinlich. Er selbst schürt solchen Argwohn mit seinem Bericht über einen gefakten Kunstpreis samt "Ministerempfang" für die Künstlerinnen, dem er als Laudator den Anstrich von Amtlichkeit verlieh. Und er erinnert mit Bewunderung an Wolfgang Hildesheimers faktenreiche Biographie des fiktiven romantischen Malers Marbot.
Sosehr Strouhal mit Novalis' Begriff der "reizenden Verwirrung" von Scherz und Ernst liebäugelt, so hochseriös und theoriegesättigt nähert er sich doch zumeist seinem Thema, etwa in einer kurzen Kulturgeschichte des Windes, die vom Gilgamesch-Epos bis Raoul Schrott keinen (auch nicht den unflätigsten) Wunsch an die Windsbraut offenlässt - ausgenommen Droste-Hülshoffs ikonisches Gedicht "Am Turme", in dem der Sturm zum erotischen Herausforderer des Ich wird. Zugegeben eine kleinliche Beschwerde bei solch üppigem Angebot.
Mit angemessenem Ernst widmet der Autor sich dem Zauber- und Entfesselungskünstler Harry Houdini, der in seiner späten Karriere in den USA bei der Entlarvung von Falschspielern und schwarzen Magiern half: Das "Verhältnis der professionellen Magier zum 'faulen' Zauber" war in der Geschichte der Zauberkunst stets gespannt, wohl weil die Methoden einander allzu ähnlich sind. Ausgesprochen ernst ist es Strouhal auch mit seiner Relektüre von Johan Huizingas "Homo ludens" (1938): Der spielende Mensch als der eigentliche Motor der Kultur, "als Kulturschaffender bleibt er/sie stets ein/e Spielende/r" - das einem grammatikalischen Irrtum geschuldete Typographiedesaster ist gottlob die große Ausnahme in diesem Band. Huizingas Modell der Spielgemeinschaft in der Kunst und des sie abschirmenden Zauberkreises sieht Strouhal in einer auf Identität fixierten Gesellschaft gefährdet, die Rollenwechsel, Maskierung und Verkleidung mit Bann bedroht.
Strouhals Anerkennung für Huizingas "essayistisches, vieles in Schwebe belassendes Schreiben" fällt sozusagen auf ihn selbst zurück. Ein Autor, der die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit der Welt nicht auflösen, sondern in seinem Denken einfangen will, kommt in seinem formalen Register ohne akademischen Jargon aus. Er kann genauso gut über Eselsohren in Büchern (das "Origami der Intellektuellen") nachdenken wie ein Gespräch mit einem leibhaftigen Esel imaginieren. "Eselsohren sind ein Erinnerungszeichen, aber auch ein Versprechen." Für eine Freundin des Autors sind sie auch ein Prestigezeichen: Sie kauft Bücher, die sie nicht lesen will. Macht aber doch heimlich Eselsohren hinein.
Ernst Strouhal: "Über kurz oder lang". Essays und Reportagen.
Czernin Verlag, Wien 2024. 468 S., Abb., geb.,
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