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Besprechung vom 14.02.2025
Mehr als Rechnen
Eugenia Cheng nimmt für die Mathematik ein
Ergibt eins plus eins immer zwei? Natürlich nicht. Wer erst ein Brötchen kauft und dann noch eines dazu, der hat zwei Brötchen. Wer aber einen Sandhaufen aufschüttet und dann einen zweiten obendrauf schaufelt, der hat immer noch nur einen Sandhaufen. Wer hingegen ein Kaninchen kauft und dann noch eines, hat am Ende vielleicht ganz viele Kaninchen. Und wer künstliche Lebensmittelfarben nicht verträgt, hat auch dann, wenn er nacheinander jeweils eine Süßigkeit geschenkt bekommt, im Grunde überhaupt keine. Das führt zur nächsten Frage: Wann, also unter welchen Bedingungen, ist eins plus eins gleich zwei? Oder noch eine Ebene darüber: Warum ergibt eins plus eins eigentlich (oft) zwei?
Mathematik ist viel mehr als Rechnen. Die britische Mathematikerin und Pianistin Eugenia Cheng hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher geschrieben über ihr Fach, das zugleich ganz augenscheinlich Beruf und Berufung ist. Nun ist ihre Monographie "Is Maths Real?" auf Deutsch erschienen unter dem Titel "Das Buch, von dem du dir wünschst, dein Mathe-Lehrer hätte es gelesen". Das klingt entschieden, bekräftigt aber das Vorurteil, viele Mathematiklehrer vermittelten bloß Rechnen, was nicht stimmt.
Cheng bietet einen unkomplizierten Zugang zu den Denkwerkzeugen der Mathematiker. Indem sie scheinbar profane Fragen stellt - wie die nach der Addition zweier Einsen -, erschließt sie das Fundament, auf dem das alltäglich relevante Rechnen fußt. Zahlen sind Konstrukte, Rechenoperationen ebenfalls, sie helfen zu abstrahieren, zu messen, schaffen Vergleichbarkeit, stellen Beziehungen her zwischen Dingen, Menschen, Orten, Eigenschaften, Perspektiven - und ermöglichen es uns, etwas zu folgern, herzuleiten, neue Einsichten zu gewinnen. Forscher nutzen das in vielen Disziplinen, sie stellen Hypothesen auf und vermessen mittels statistischer Verfahren die Wirklichkeit, um zu prüfen, ob sie stimmen. Oder sie modellieren menschliches Verhalten beispielsweise mittels linearer Gleichungssysteme, um einzelne Folgen desselben zu isolieren und zu beschreiben.
Cheng streift durch viele Bereiche der Mathematik, sie beschreibt, wie wir uns negative Zahlen vorstellen können, warum Mathematiker häufig Buchstaben anstelle von Zahlen verwenden und weshalb wir nicht durch null teilen können. Sie geht genauso auf die Geometrie wie auf Infinitesimalrechnung ein und erläutert, was Koordinatensysteme und Funktionen sind, was man unter Grenzwerten versteht und wieso René Descartes so wichtig war. Ihre Sprache ist leicht verständlich, und jede Seite zeugt von einem geradezu kindlichen Vergnügen an der Mathematik.
Praktisch bedeutsam sind die Inhalte ohnehin. Gerade auch die Informatik ist letztlich eine Form angewandter Mathematik. Wie Computer Daten aufnehmen, verarbeiten, rechnen, wo ihre Grenzen liegen - all das fußt auf mitunter nicht einmal brandaktuellen mathematischen Erkenntnissen. Und nicht zuletzt steckt in der Künstlichen Intelligenz viel Mathematik. Die auf dem Lernen, auf sogenannten künstlichen neuronalen Netzen basierenden und gegenwärtig so angesagten großen Sprachmodelle funktionieren, weil in ihnen brauchbare mathematische Optimierungsverfahren stecken, die Nvidia-Grafikprozessoren sind deswegen so nützlich, weil sie sich besonders gut für lineare Algebra eignen.
Cheng schreibt an einer Stelle über Gleichungen und stellt die zunächst wieder simpel anmutende Frage, ob vier plus zwei dasselbe sei wie zwei plus vier. Einerseits ist das so. Andererseits, so fährt sie fort, gilt das vielleicht nicht für ein kleines Kind, das noch mit den Fingern rechnet und dem es leichter fällt, mit vier zu beginnen und noch zwei Finger dazuzuzählen, als mit zwei zu beginnen und noch vier Finger brauchen zu müssen. Das Kind gelangt mit der ersten Variante womöglich schneller zum Ziel. Die Rechenreihenfolge ist also entscheidend - und das eben nicht nur in diesem Kinderbeispiel, sondern wiederum etwa auch bei Künstlicher Intelligenz: Es macht einen teilweise gravierenden Unterschied, in welcher Abfolge ein modernes KI-Modell mit den entsprechenden Daten angelernt wird, auch wenn die Datenmenge dieselbe ist.
Mathematik ist, darauf geht Cheng mehrfach ein, eine Art und Weise, über die Welt nachzudenken, ein Schlüssel, um in sich logisch und konsistent zu argumentieren, ein probates Mittel, um Zeitverschwendung zu reduzieren, weil durch diesen oder jenen Trick Dinge schneller erledigt oder als langweilige Routine formuliert werden können. Kurz gesagt: Es gibt viele gute Gründe, sich mit Mathematik zu befassen. Chengs Buch ist ein vorzüglicher Einstieg. Und unterhaltsam obendrein. ALEXANDER ARMBRUSTER
Eugenia Cheng: "Das Buch, von dem du dir wünschst, dein Mathe-Lehrer hätte es gelesen".
Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. C. H. Beck Verlag, München 2024. 325 S., Abb., geb.
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