Besprechung vom 05.06.2025
Natriumchloridfunkeln in Meer und Poesie
Ein Auswahlband mit Gedichten der kanadischen Lyrikerin Eva H.D.
Wenn die kanadische Dichterin Eva H.D. ein "Stillleben" skizziert, gibt es darauf keine Blumen, Früchte oder Krustentiere zu sehen. Lieber versammelt sie "helle Auslegware" neben einer Mikrowelle und einem elektrischen Schneemann. Und der Wind vor dem Fenster bläst mit hundert Meilen die Stunde - "winselt im Schornstein / wie ein wodkadürrer Säufer".
In Eva H.D.s Versen gewinnt eine kanadische Alltagswelt Gestalt, die der Dichterin durchaus vertraut ist. H.D. wurde in Toronto geboren und kennt vor allem die Viertel der Stadt, die sich der touristischen Aufbereitung entziehen. Man könnte diese Welt allein aus den Dingen und Wörtern zusammensetzen, die sie in ihren Gedichten verwendet, von "Bikerboots" und "Baseballkappen" über Wäscheleinen, Maschendrähte und "schrottreife Pick-ups" bis zu Plüschhasen oder "Gehstöcken mit Gummifüßen".
Gleichzeitig aber schlägt die Imagination in den Versen ihre Volten. Eva H.D. hält sich mit biographischen Details gerne zurück, darauf weist schon der abgekürzte Name hin oder der Widerwille, ihr Geburtsdatum anzugeben. Umso größer ist ihre Lust, die entworfenen Szenerien mit Blitzlichtern der Phantasie zu durchziehen. Hier kann man mitten in einer sommerlichen Atmosphäre aus "Maulbeeren, Pisse" und Schwimmbadchlor ganze Meteore entdecken. Anderswo erfindet Eva H.D. eigens ein Maß, das "Michigan", eine Verschmelzung von räumlichen und zeitlichen Momenten: "Ein Michigan ist sehr viel größer als ein Fußballfeld, / zwei oder zehn sind eine von diesen Frauen-stören-nur- / Bikertouren und fünfzehn sind all die alten Tee- oder / Seiden- oder Gewürzstraßen, transsibirisch endlos ausgerollter / Kummer".
Immer wieder holt Eva H.D. Gegenden, in denen die sozialen Bruchlinien besonders tief sind, in die Sprach-Räume ihrer Gedichte. Dazu gehören einige ihrer Kindheitswelten. Etwa ein Kirchenbesuch anlässlich der Beerdigung einer Tante. In Form einer Selbst-Anrede, in schlanken Versen und in einer einfachen Diktion, die dem kindlichen Bewusstsein angepasst ist, ruft die Sprecherin das Mädchen wach, das sie einmal war. Und über das es heißt, es sei "immer schon anders gewesen / als die anderen". Die Trockenhaube der Tante wird derweil zu einem "brausenden Bienenkorb". Da die Wabenkunst der Bienen traditionell ein Bild für den Versbau der Dichtenden ist, entwirft H.D. hier wie nebenbei eine Urszene ihres Daseins als Dichterin. Ecce poetessa!
Das Übersetzungsduo Anne-Kristin Mittag und Steffen Popp hat für das Buch knapp vierzig Gedichte aus H.D.s bislang drei Bänden ausgewählt (erschienen 2015, 2016 und 2023). Leider gibt es keinerlei Hinweis darauf, welches Gedicht welchem Band entstammt und ob die Anordnung chronologisch ist oder nach Motiven komponiert. Auch hätte man sich ein kleines Nachwort gewünscht, das die äußerst knappen Anmerkungen ergänzt und zudem erklärt, ob Mittag und Popp die Gedichte aufgeteilt oder den gesamten Band gemeinsam übersetzt haben.
In ihren deutschsprachigen Versionen beweisen die beiden ein gutes Gespür für Eva H.D.s Rhythmik, die sich mal in kurzen Versen, mal in weit ausschwingenden Langzeilen zeigt. Auch für die umgangssprachlichen Wendungen in den Gedichten. Manche Formulierungen wirken jedoch ein wenig eigenartig. Wie kann man Bomben "am ganzen Körper lodern lassen"? Oder warum wird aus "the wine-cooler sidewalk" die "Bowle des Gehsteigs"? An anderen Stellen schimmert noch der englische Satzbau durch.
Dafür gelingt es Mittag und Popp, Eva H.D.s Formkunst erlebbar zu machen. Sie baut genauso Sonette (samt Reimschemata), wie sie mit freien Versen spielt. Bei alldem ist ihr sprechendes Ich wundersam durchlässig, hier fluid, dort flattrig-ungreifbar wie ein "Natriumchloridfunkeln im Ägäischen Meer". Erst recht aber verdichtet sie die Bedeutungsnuancen immer wieder in wahren Klangkaskaden. So wird das "Feuerwerk" eines Gedichts über die Paradoxien der Liebe in ein Laut-Feuerwerk aus Alliterationen verwandelt. Das Übersetzungsgespann fängt das in leichter Verschiebung sehr schön in Findungen wie "Feuerwerk und / (...) Feuerameisen" oder "wippende / kippelnde Griffe" ein.
Überhaupt das Feuer. Eva H.D. hat die Gabe, mit ihren Gedichten eine ganz eigene Präsenz zu erzeugen (auch indem sie das Präsens dem Präteritum vorzieht). Dazu verwendet sie gebrochene Epiphanien und sehr eigentümliche Bilder: "Ich bin so alkalisch, was ich / berühre fängt Feuer." Die Flammkraft ihrer Poesie entfacht sie in Straßenszenen und Reiseskizzen, in Erinnerungsbildern und geschredderten Dinggedichten, über einen "Gewürzladen" zum Beispiel oder über "Obst aus der Dose". Und ein ums andere Mal hüpft sie wie nebenbei auf die Meta-Ebene und reflektiert über das gerade Geschriebene oder probiert Varianten aus.
Dabei gelingen ihr zugleich Porträts unserer Zeit. Am eindrücklichsten vielleicht in zwei längeren Gedichten zu Roadtrips durch "Amerika". "Es gab Schönheit in Amerika, und ich fand sie", heißt es hier gleich zu Beginn. Und dann dreht sie die Bilder so lange, bis "unter dem großen amerikanischen Mond" nur noch jene "Märchen" aufscheinen, die an die Trump-USA der Gegenwart erinnern - "als wäre jede Lüge immer // so hübsch". Doch Eva H.D. wäre nicht die großartige Dichterin, die sie ist, wenn sie nicht auch ein Gegengift beschwören würde, und sei es in der Möglichkeitsform: "Lebte ich in Amerika, ich würde dir Honig bringen, / (...) Ein neues Amerika würde ich dir schaffen aus Honigwaben." NICO BLEUTGE
Eva H.D.: "Wenn alle deine Freunde vom Felsen springen". Gedichte.
Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag und Steffen Popp. Hanser Verlag, München 2025. 126 S., geb.
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