Zwei Schwestern, ein Fluch und jede Menge Strickwolle. Ein leichtfüßiger Roman über Herkunft, Familie, Schuldgefühle - und den Mut, sich seinen Ängsten zu stellen
Malina ist noch klein, als ihre Eltern die gleichaltrige Melek adoptieren. Sie hat sich zwar immer eine Schwester gewünscht, aber diese Melek kann sie nicht akzeptieren. Im Gegenteil - als die Perseiden eine Sternschnuppe nach der anderen vom Himmel schleudern, wünscht sie sich, dass Melek einfach verschwindet. Und nun, zehn Jahre später, scheint ihr Wunsch in Erfüllung zu gehen. Ausgerechnet in der Nacht, in der Malina mit Meleks großer Liebe Micha rumknutscht und die Perseiden wieder durch den Himmel fegen, fährt Melek mit dem Fahrrad in eine Autotür und fällt ins Koma. Und Malina glaubt fest, dass sie daran Schuld ist. Und so beschließt sie, in Meleks Heimatstadt Istanbul zu fliegen, um das Schicksal gnädig zu stimmen. Wie, weiß sie selbst nicht. Doch auf ihrer Reise findet Malina heraus, dass die Geschichte ihrer Adoptivschwester auch ihre eigene ist - und zwar mehr, als sie ahnte.
Ein gefühlvoller und emotionaler Jugendroman ab 14 Jahren über das Erwachsenwerden . . .
Besprechung vom 24.02.2025
Ohne Muezzinruf ist es ganz schön still
Filiz Penzkofers Schicksalsroman "Leuchtfische" erzählt von einer familiären Spurensuche
Sternschnuppenwünsche verrät man nicht, weil sie sonst nicht in Erfüllung gehen. Oder, weil man sich so für sie schämt, dass sie unmöglich ausgesprochen werden können. Malina jedenfalls behält besser für sich, dass sie sich vor zehn Jahren wünschte, ihre Adoptivschwester aus der Türkei würde verschwinden. Bis die einen Autounfall hat - und Malinas Wunsch in Erfüllung zu gehen droht.
Das zumindest wäre eine Möglichkeit, wie sich Filiz Penzkofers zweiter Jugendroman zusammenfassen ließe. Eine andere wäre: "Leuchtfische" ist die Geschichte von komplizierten, mitunter mehrgenerationalen Dreiecksbeziehungen, von Enttäuschung, Liebe und Schuld. "Leuchtfische" ist aber auch ein Buch über Rebellen und den Protest gegen staatliche Repressionen, über die Biografien von Gastarbeiterkindern und die Suche nach den eigenen Wurzeln. Und nicht zuletzt ist "Leuchtfische" eine große Abenteuergeschichte.
Denn als ihre Adoptivschwester Melek nach dem Unfall ins Koma fällt, tut die 17 Jahre alte Malina, die sich gerade eigentlich nur um ihre Bewerbung an einer Kunstschule kümmern will, das Einzige, was in jugendlicher Logik Sinn ergibt: Sie fliegt nach Istanbul. In Meleks Heimatstadt, in der sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr lebte, begibt Malina sich ungefragt stellvertretend für sie auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte. Damit, so ihr erklärtes Ziel, will sie das Schicksal versöhnlich stimmen - Wunschumkehr durch Wiedergutmachung also.
So konfus dieser Plan sein mag, so scharfsinnig ist die Protagonistin, wenn es darum geht, das Rätsel um Meleks Familie zu lösen. Malina, kurz Malle, ist frech, ohne ihre Ängste zu verschweigen, originell, wenn sie hinter dem "korrekten Brille-Fielmann-Style" ihres Hostelnachbarn dunkle Abgründe vermutet, und unfreiwillig lustig, wenn sie zur Beruhigung an Olaf Scholz denkt, wie er ein Marmeladenbrot isst. Dass Penzkofer mit Malina eine glaubwürdige Vertreterin ihrer Generation geschaffen hat, zeigt sich nicht zuletzt in ihrer - wie selbstverständlich eingenommenen - feministischen Haltung. Malina sucht sich ihre weiblichen Vorbilder ganz bewusst, will sich nicht mit anderen Frauen vergleichen und ärgert sich, wenn sie es dann doch mal tut.
Dabei belässt Penzkofer es jedoch nicht. Geschickt webt sie den Feminismus immer wieder in die Geschichte ein und verleiht ihm auch dadurch Gewicht, dass sie sein politisches Umfeld auf ihn reagieren lässt. Denn in der Türkei stellt Malina schnell fest, dass Aktivismus andere Konsequenzen nach sich ziehen kann, als wenn sie der Bismarck-Statue im Berliner Tiergarten ein Strickkleid überstülpt. Es ist eine Erkenntnis, die ohne künstlich heraufbeschworene Bedeutungsschwere auskommt, sich stattdessen fast beiläufig in die Geschichte einfügt.
Ebenso werden andere Unterschiede zwischen Berlin und Istanbul auf subjektive Weise durch Malinas Augen erzählt. Und die ist in Gedanken oft bei Melek. Als sie das erste Mal vom Ruf des Muezzins geweckt wird, fragt sie sich: Muss es für Melek nicht unheimlich still gewesen sein in Deutschland? Es sind Blickwinkel und Gedanken wie diese, die nicht nur Malinas Einfühlungsvermögen beweisen, sondern auch Penzkofers Fähigkeit, in Zwischentönen zu erzählen.
Über 250 Seiten gelingt es ihr, Malinas Spurensuche mit politischen und kulturellen Eindrücken anzureichern, ohne dass die Handlung dadurch zerfasert. Im Gegenteil: Sie gewinnt an Spannung und Authentizität. So findet Malina nach einer Weile Freunde in Istanbul, die mit ihr Köfte essen, Konzerte besuchen, Ausflüge unternehmen und sich darüber streiten, welche Stadt schlimmer ist - Berlin wegen der Einsamkeit oder Istanbul wegen der fehlenden Meinungsfreiheit -, und mit vorbildlicher Debattenkulturmanier im Kompromiss wieder zueinanderfinden. "Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir Nordkorea am schrecklichsten finden!"
Hinter all den neuen Erfahrungen und Erlebnissen droht der Anlass für Malinas Reise stellenweise in Vergessenheit zu geraten. Doch gerade rechtzeitig fängt Penzkofer die Geschichte immer wieder ein. Stück für Stück gräbt sich ihre Protagonistin in Meleks Vergangenheit und findet zunehmend Antworten auf ihre Fragen. Bis schließlich vor allem eine übrig bleibt: Warum waren es eigentlich ausgerechnet ihre Eltern, die die junge Melek aus der Türkei adoptierten?
Glaubt man gerade noch erahnen zu können, wo die Geschichte hinführt, wird man im nächsten Moment schon wieder überrascht. Spätestens nach der ersten Hälfte entwickelt sie einen so starken Sog, dass es einiges an Willensstärke erfordert, die letzten hundert Seiten nicht an einem Stück zu lesen. Immer wieder schlägt die Geschichte Haken, immer wieder kommt alles anders - und zwar nicht (nur), weil das Schicksal dazwischenfunkt, sondern vor allem, weil Penzkofer ihre Protagonisten verstehen, reagieren und handeln lässt.
Und so ist bei aller Schicksalhaftigkeit, allem Glück und Pech, das den Figuren dieses Buches widerfährt, doch eine der wichtigsten Lehren, dass es nie zu spät ist, für alte Fehler geradezustehen. Dass das Schicksal durchaus Mitspracherechte gewährt. Und schließlich: dass es bei manchen Sternschnuppenwünschen gut ist, über sie zu sprechen. ANNA NOWACZYK
Filiz Penzkofer: "Leuchtfische". Roman.
Rotfuchs Verlag, Frankfurt am Main 2024. 256 S., geb., 19,90 Euro.
Ab 14 J.
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