Friederike Mayröcker war eine der großen Dichterinnen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Immer wieder wurde sie für den Literaturnobelpreis ins Gespräch gebracht. Am 4. Juni 2021 verstarb sie mit 96 Jahren in ihrer Heimatstadt Wien. Der vorliegende Band knüpft an die Gesammelten Gedichte 1939-2003 (2004) an und trägt Friederike Mayröckers lyrisches Spätwerk bis zu ihrem allerletzten, 2021 entstandenen Proëm zusammen.
Als Friederike Mayröcker 2004 den 80. Geburtstag feierte und ihre Gesammelten Gedichte 1939-2003 erschienen waren, entschloss sie sich, noch einmal in eine ganz neue Richtung aufzubrechen. Nach und nach entwickelte sich so eine eigene Form, der sie den Namen »Proëm« gab - lyrische Erleuchtung und hellwache Weltbeobachtung, changierend zwischen Kurzprosa und Gedicht. Zu ihrem erklärten Ziel wurde es, schreibend den Tod, ihren erbitterten Feind, auf Distanz zu halten. Friederike Mayröcker tat es mit ungeahnter Produktivität und überbordendem Farbenreichtum, indem sie ihre Liebe zum Leben heraufbeschwor: In Erinnerungen an ihre wechselvolle Kindheit im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre, an ihre Jahrzehnte an der Seite von Ernst Jandl, an zahllose Begegnungen mit Menschen, Kunstwerken und Musik. Dem Wechsel der Jahreszeiten folgte sie aufmerksamer denn je, und mit ihrer Sprachmacht verstand sie es, eine Blume auf dem Fensterbrett gegenüber zum Zentrum des Universums werden zu lassen.
Besprechung vom 22.05.2025
Das Auge, herrschaftsfrei
Derrida als Leitlektüre im hohen Alter: Ein "Text+Kritik"-Sonderband zu der Dichterin Friederike Mayröcker
Die letzten Zeilen von Friederike Mayröckers letztem Gedicht, das einer Reise zu einer Freundin in Bratislava gilt, lauten:
Wegen der Erwähnung meines
Todes . . . . . endlich gleiten wir mit dem
city liner nach Wien-
Schwedenplatz zurück. Ich meine, so
Lida Jurinova, ich
ich mein Augé.
Dieses "Proëm" ist datiert: 15.1.21. Es ist abgedruckt im jetzt erschienenen Band "Friederike Mayröcker. Gesammelte Gedichte 2004-2021". Am 4. Juni 2021 verstarb Friederike Mayröcker in ihrer Heimatstadt Wien im Alter von sechsundneunzig Jahren. Und nun ist ihr ein Sonderband der Reihe "Text + Kritik" gewidmet, herausgegeben von Marcel Beyer und Peer Trilcke. Wie ist diese epochale literarische Erscheinung zu fassen? Gar nicht, und das ist auch gar nicht das Ziel dieser Würdigung.
Mayröckers Umgang mit Sprache - oder vielleicht besser: das Einfließen der Sprache in diese große Poetin - hat nicht seinesgleichen. Das griechische Wort "poiein" bedeutet "machen". Und mit der Sprache hat sie alles gemacht, was aus ihr herauszuholen ist an Bildhaftigkeit und Gedankenaktivierung. Ihre Grenzgänge zwischen Lyrik und Prosa taufte sie deshalb eben "Proëm". Entsprechend sind die Texte der achtzehn Beiträgerinnen und Beiträger Annäherungen, mehr oder weniger subjektive Versuche, diesem umfangreichen Werk von mehr als achtzig Büchern in Ausschnitten gerecht zu werden. Dass Mayröcker nicht mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde - allerdings ihr seit 1954 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 lebenslanger Gefährte Ernst Jandl -, sei hier auch erwähnt.
Von dem Schriftsteller Marcel Beyer, dem Herausgeber ihrer Prosa und Gedichte, kommt auch das Nachwort. Er verfolgt Erinnerungsspuren im OEuvre bis zurück in die Kindheit im niederösterreichischen Deinzendorf, auch anhand detaillierter Recherchen in amtlichen Schriften und Zeitungen. So kristallisiert sich ein Bild ihrer Eltern heraus. Da war die melancholische, künstlerisch sensible Mutter, die 1934 einen Suizidversuch unternahm - Beyer zitiert aus dem Proëm ohne Titel vom 25. März 2006, das so beginnt: "(. . .) im kahlen / Strauch der Gesang einer Amsel, habe meine Mutter / auf einer Säule gesehen, mit 11 ich spielte / Diabolo im Hof, Mutter versuchte Selbstmord sie / wurde gerettet, (. . .)". Dann der Vater, versessen auf Motorräder und Autos und geschäftlich erfolglos, der sich schließlich als "Hobby- und Sachbuchautor" versuchte, während die ersten Gedichte der Tochter bereits gedruckt waren. Jedoch für Mayröckers Schreiben gilt: "Der Schreibtisch der Vaterfigur ist leer, und die Tochterfigur erinnert sich nicht, woran er an diesem Platz gearbeitet haben könnte."
In einem Interview mit dem zweiten Herausgeber Peer Trilcke äußert sich Mayröckers Lektorin Doris Plöschberger, mit der sie seit 2008 zusammenarbeitete, unter der Überschrift "Formfragen". Zu Persönlichem und Anekdotischem sagt sie nichts. Sie spricht von einer "anderen Art von Arbeit", es konnte nicht wie üblich um logische Brüche oder Sachfehler gehen: "Was die Textarbeit betrifft, bestand das Lektorat vor allem darin, ein Typoskript in eine Form zu bringen, die druckbar war." Diese Umsetzung musste mit Mayröcker besprochen werden, die bis zuletzt eine mechanische Schreibmaschine benutzte, was ein spezifisches Bild ihrer Gedankenströme mit sich brachte wie übergroße Wortabstände oder Auslassungspunkte. Weil im Buch keine Reproduktionen des Originals erstellt wurden, fehle dort vor allem, sagt Plöschberger, "das Gestische des Entstehens, das Momenthafte der Texte". Auf Trilckes Frage, was von Mayröcker, ihrem Werk, bleibe, antwortet Plöschberger, sie denke, man könne nichts von ihr "lernen": "Es ist einzigartig. Einzigartig in seiner fast schon magischen Entgrenzung und damit nicht nachzuahmen."
Allerdings dabei zweifellos von einer ansteckenden Kraft für die Nachkommenden, in Formen von Anverwandlung oder Aneignung. Das wird im Band schön sichtbar in einem Mailgespräch der Literatinnen Ursula Krechel und Ulrike Almut Sandig mit der Literaturwissenschaftlerin Anna Bers, die einleitend fragt, was künftige Generationen aus Mayröckers Werk behalten werden oder sollen. Krechel macht eine - durchaus ihrerseits poetische - Vorlage: "Friederike Mayröcker zu lesen, lockert die Lesemuskulatur"; damit gibt sie überhaupt den Ton vor. Diese Unterhaltung über dreizehn Druckseiten hinweg ist wie ein Weckruf zur Auseinandersetzung mit Mayröckers Schaffen.
Als Friederike Mayröcker am 20. Dezember 1924 geboren wurde, lebte Rainer Maria Rilke noch. Keinesfalls kann er ihr entgangen sein, so wenig wie dessen oft genannter Vorgänger Hölderlin, in der ganzen Bildmacht seiner Sprache. Dass noch ein ganz anderer Mayröckers Sprach- und Schrift(bild)unternehmungslust beflügelte, führt die Literaturwissenschaftlerin Gabriele Wix in ihrem inspirierten Beitrag aus. Es ist der französische Philosoph Jacques Derrida (1930 bis 2004). Mit dessen komplex dekonstruktiver Hegel/Genet-Lektüre "Glas" (1974; auf Deutsch erst 2006) beschäftigte sich Mayröcker intensiv in ihren späteren Jahren: "Deutsch ,Glas' ist homonym mit französisch 'glas', was wiederum ins Deutsche übersetzt ,Totenglocke', auch ,Totengeläut' bedeutet." Wix zitiert dazu immer wieder Mayröcker, etwa aus "fleurs" von 2016: "ich meine es nimmt mich wunder seit etwa 6 œ Jahren lese ich in GLAS von Jacques Derrida"; und dann: "Ich fange an das Buch nochmals zu lesen, es liegt nachts auf meinem Kopfkissen und ich liebe es . . . . . . ." Wix erkennt in "Glas" ein Leitmotiv für Mayröcker im hohen Alter.
Der Band im Ganzen ist Einführung in und Vertiefung von Mayröckers Weltverrätselung und Weltdeutung. Ihre einzigartig herrschaftsfreie Fähigkeit, Bilder aus ihrem Innersten wie dem Außen, etwa der Natur, in Sprache umzuschmieden, hat sich weder Syntax noch Gattungsgrenzen unterworfen. Mit ganz weit offenem - Augé. ROSE-MARIA GROPP
"Text + Kritik-Sonderheft Friederike Mayröcker". Hrsg. von Marcel Beyer und Peer Trilcke.
Edition text + kritik,
München 2024. 175 S., Abb., kart.
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