Welche Spuren hinterlässt koloniale Gewalt?
Die heiligen Orte in den Anden beherbergten einst wertvolle Grabbeigaben. Heute findet man sie in den großen Sammlungen europäischer Museen. Dort wird Gabriela Wiener mit ihrem Erbe konfrontiert: ausgerechnet ihr Ururgroßvater Charles Wiener, ein jüdisch-österreichischer Forscher, erbeutete im 19. Jahrhundert Tausende Artefakte. Als sie der väterlichen Linie ihres Stammbaums nachgeht, stößt sie auf patriarchale Heldenerzählungen: die Legende des bescheidenen Deutschlehrers, der über Nacht zu Indiana Jones wird, aber in Peru Frau und Kind zurücklässt. Und die Parallelbeziehung ihres Vaters, in der dieser mit Vorliebe eine Augenklappe trug. Werden Vorstellungen von Liebe und Lust weitergetragen? - Ausgehend von ihrem Nachnamen wird Gabriela Wiener nicht nur zur Chronistin von Kolonialverbrechen, sondern auch zur Chronistin ihrer selbst.
»Die vielleicht mutigste Stimme der neuen literarischen Generation lateinamerikanischer Frauen. Sie hat praktisch jedes heikle Problem erforscht, mit dem sich die heutige Gesellschaft herumschlägt. « The New York Times
»Queer, postkolonial und machtkritisch, dabei zugleich verletzlich und berechtigt wütend die (Literatur-)Welt braucht mehr solcher Bücher, mehr marginalisierte Stimmen, die sich erheben. « Ronja, oceanlove Blog
» Unentdeckt ist ein autofiktionaler Roman, der offenherzig von den Problemen der Ich-Erzählerin berichtet. « Eva Pfister, Lesart
» Unentdeckt ist trotz seiner Kürze [ ] eine tiefgehende Erkundung komplexer Themen, die immer wieder auf Charles Wiener zurückgehen. « Isabella Caldart, analyse & kritik
»Obwohl sie historisch weit ausgreift, bleibt Gabriela Wiener konsequent bei ihrem eigenen Blick, ihren Gefühlen und Gedanken. So dient die Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer Herkunftsgeschichte [ ] auch als Katalysator für die persönliche Erkenntnis: Ich will das Patriarchat in mir beschneiden. « Maja Goertz, Monopol-Magazin für Kunst und Leben
»Wo sie versucht, nachzuvollziehen, wie [Charles Wiener] zumute war, was er alles getan hat, um was zu werden [ ], da verbindet sich was. Da schafft sie einen Raum gebrochener Spiegel. « Katharina Döbler, DLF Kultur im Studio 9
»Wieners postkoloniales Erzählen überrascht die Leserin immer wieder mit Unerwartetem. Es beharrt auf dem Reiz des Gemischten, löst Uneindeutiges nicht auf und moralisiert nicht, trotz dem kontrovers aufgeladenen Thema Kolonialismus. « Martina Läubli, NZZ
»Es ist ein Buch, das uns mehr angeht als uns lieb sein mag. Und das die Debatte raus aus dem Museum in die heutige Gesellschaft trägt. « Peter Stuiber, Magazin Wien Museum
»Ein fantastisches Buch, vor allem, wenn man verstehen möchte, dass es in der Restitutionsdebatte eben nicht einfach um die Rückgabe von Keramikvasen geht. « Melissa Erhardt, ORF - radio FM4
»Gabriela Wiener hat mit Unentdeckt ein berührendes Buch geschrieben, das nicht nur ein intimes Zeugnis der eigenen familiären Verbundenheit und der daraus folgenden intensiven Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe ist. Unentdeckt ist ein tiefgehender Roman, der persönliche Erfahrungen mit historischen und gesellschaftlichen
Fragestellungen verknüpft. « kulturbuchtipps. de
»Gabriela Wiener vereint nicht nur mühelos Kritik am europäischen Kulturimperialismus wie am europäischen Rassismus. Sie eignet sich mit dem Roman zugleich die eigene fluide Identität an. Fazit: ein so wichtiges wie aufregendes Stück Literatur! « SWR
Besprechung vom 06.03.2025
Sex-Therapie zur Dekolonisierung
Gabriela Wieners Roman über die Folgen des Raubzugs ihres Ururgroßvaters in Peru
Es gab ihn wirklich: den österreichisch-französischen Wissenschaftler, Diplomaten und Abenteurer Karl Wiener. In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts hat er Peru und Bolivien bereist und von dort Tausende Objekte unterschiedlichster Art, vorwiegend aus prähispanischer Zeit, nach Europa gebracht, wo viele dieser Artefakte noch heute in verschiedenen Museen, vor allem im Pariser Musée du Quai Branly zu sehen sind. Wiener wurde 1851 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren. Nach dem Tod des Vaters ging er nach Frankreich, wo er seinen Vornamen in Charles französisierte; später erhielt er auch die Staatsbürgerschaft des Landes. Zunächst war er aufgrund von Empfehlungen einflussreicher Persönlichkeiten als Deutschlehrer an einem renommierten Gymnasium in Paris tätig, 1875 wurde er auf eine zweijährige Expedition nach Peru und Bolivien geschickt, offenbar mit dem Hintergedanken, von ihm dort ergatterte Gegenstände auf der Weltausstellung 1878 in Paris präsentieren zu können.
Die peruanische Autorin Gabriela Wiener hat ihren Ururgroßvater zur zentralen Figur eines unter dem etwas beliebig wirkenden Titel "Unentdeckt" soeben in deutscher Übersetzung veröffentlichten Romans erkoren. Aus der Beschäftigung mit ihrem Vorfahren ist weit mehr als eine biographisch angehauchte Abenteuergeschichte geworden. Das Buch liefert vielmehr eine tiefgründige Analyse des Auftretens der Kolonialherren in den von ihnen "besuchten" Ländern, erkundet die mit ihren Raubzügen verursachten materiellen wie ideellen Schäden und beschäftigt sich mit den komplexen Folgen in den menschlichen Beziehungen zwischen weißen Raubrittern und autochthonen Bewohnern.
Gabriela Wiener hat penibel über ihren Ahnen geforscht, ihre Beobachtungen decken sich mit gesicherten Erkenntnissen über dessen schon zu Lebzeiten umstrittene Persönlichkeit. Sein auf Französisch geschriebenes Buch "Pérou et Bolivie", in dem er über seine Erkundungen in Lateinamerika berichtet, und manch andere seiner Einsichten halten in vielerlei Hinsicht wissenschaftlichen Ansprüchen nicht stand. Immerhin gab er Hinweise auf die Inkastadt Machu Picchu, die für den tatsächlichen späteren Entdecker Hiram Bingham wertvoll waren.
Ihr Ururgroßvater habe sich zu aberwitzigen Thesen verstiegen, hat Gabriela Wiener herausgefunden, etwa über das vorgeblich kommunistische Imperium der Inka, auch schreibt sie ihm die abstruse Behauptung zu, Ludwig XIV. habe sich von den Inkas zu dem Spruch "Der Staat bin ich" anregen lassen. In ihrem Roman schildert die Autorin die komplexen und im Detail nicht mehr vollständig aufzuklärenden Verwandtschaftsverhältnisse in der Familiendynastie, die Charles Wiener in Peru begründet hatte, bevor er sich aus dem Staub machte und nach Europa zurückkehrte. Neben Nachkommen aus real existierenden Ehen und aus Seitensprüngen gab es auch einen Indiojungen, den Wiener einer Peruanerin abkaufte und ihn nach Europa brachte, um ihn dort zu "zivilisieren". Welche Rolle dieser Juan genannte Mann in der "Großfamilie" spielte, bleibt offen. Er sei eines der "ungewissen Wiener-Wesen", bemerkt die Autorin.
Sie selbst sei "von allen Wieners die am meisten Indigene", konstatiert Gabriela Wiener, was sie wohl zum Titel des bereits 2021 erschienenen spanischen Originals ihres Romans inspirierte: "Huaco retrato" ("Unentdeckt" wurde wohl als Pendant zu "Undiscovered", dem Titel der englischen Fassung, gewählt). Ihr Gesicht gleiche einer jener Porträtkeramiken, den Huaco-Bildnissen, wie sie in Peru an Huacas, heiligen Ritualstätten, oder als Grabbeigaben zu finden sind. Zu den Huaqueros, den Grabräubern, rechnet sie auch ihren Ururgroßvater, eben weil er massenweise historisch bedeutsame Objekte abschleppte und nach Europa verbrachte.
Gabriela Wiener schildert in ihrem Roman, wie sehr das Erbe, das ihr Urahn in der Alten und Neuen Welt hinterlassen hat, noch immer auch ihr Leben prägt. "Etwas aus dieser perversen Mischung aus Huaquero und Huaco fließt durch meine Adern, etwas, das mich zerreißt", schreibt sie, und diese Empfindung wirkt tief in ihr Intimleben hinein. Die Ich-Erzählerin, die mit der Autorin identisch scheint, unterhält eine Dreierbeziehung mit ihrem Ehemann, einem Mestizen, mit dem sie ein Kind hat, und einer weißen lesbischen Frau, die allerdings auch von dem Mann geschwängert wird.
Zwischen Europa und Lateinamerika fühlt sich die in der peruanischen Linken politisch aktive Autorin hin- und hergerissen. Ihre Zuflucht sucht sie in sehr explizit geschilderten sexuellen Erlebnissen in ihrer ménage à trois, aber auch wenn sie sich von einer schwarzen Frau aus dem kolumbianischen Barranquilla, einer Art Therapeutin, in einem lesbischen Sexualakt "dekolonialisieren" lässt. Mit Polyamorie, Bisexualität und anderen Aspekten des Sexuallebens beschäftigt sich Gabriela Wiener auf geradezu obsessive Weise. Bereits in ihrer 2008 erschienenen und 2022 neu aufgelegten Chronik "Sexografías" untersucht sie ausgiebig, wie Sex menschliche Beziehungen beeinflusst.
Ihren Roman hat Gabriela Wiener in zwei Teile und unterschiedlich lange titellose Kapitel gegliedert, die Schauplätze wechseln zwischen Paris, Lima und Madrid, die Handlungsstränge sind geschickt ineinander verwoben. Die nüchterne und dennoch mit poetischer Energie aufgeladene Sprache des spanischen Originals hat die Übersetzerin Friederike von Criegern adäquat in die deutsche Fassung überführt. Für kolonialistische oder rassistische Ausdrücke, vor allem aber für die bisweilen sehr drastischen Schilderungen aus dem Sexualleben der Autorin hat sie passende, weder allzu verharmlosende noch übertrieben anzügliche Entsprechungen gefunden.
Gabriela Wieners Roman liefert viele Denkanstöße zur aktuellen Diskussion über Kolonialismus, Rassismus, Ausbeutung, Kunstraub, Armut und Machtgier, kurz: über Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Das Buch spiegelt die innere Unruhe dieser Autorin. Es ist eine Geschichte zwischen stetiger Selbstvergewisserung und immer neuen Selbstzweifeln. JOSEF OEHRLEIN
Gabriela Wiener:
"Unentdeckt". Roman.
Aus dem peruanischen Spanisch von Friederike von Criegern. Kanon Verlag, Berlin 2025. 192 S., geb.
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