Das Ende des nationalsozialistischen Deutschen Reichs scheint klar verortet: Am 7. bzw. 9. Mai wird die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet. Damit war zwar der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende, noch nicht aber waren Wehrmacht und »Drittes Reich« endgültig untergegangen. Nicht jeder bekam sogleich mit oder wollte mitbekommen, dass alles zu Ende war. Manche kämpften weiter, Hinrichtungen von »Deserteuren« gab es noch massenhaft. Manche versuchten sich abzusetzen, begingen Selbstmord oder gerierten sich als Unbeteiligte wie Albert Speer. Großadmiral Karl Dönitz, der »Nachfolger Adolf Hitlers«, gab noch am 18. Mai einen Tagesbefehl an die Wehrmacht heraus. Am 23. Mai wurden er und andere Mitglieder der geschäftsführenden Reichsregierung in Mürwik bei Flensburg festgenommen. Am gleichen Tag beging SS-Chef Heinrich Himmler in Lüneburg Selbstmord.
Gerhard Paul führt uns in Wort und Bild souverän die letzten vier absurden Wochen des zerbröselnden Reichs vor Augen, zwischen tragikomischen Momenten und brutalem Untergang. Seine Darstellung verbindet erstmals die Perspektiven der Täter, Mitläufer und Opfer, der Besiegten und der Sieger, der Akteure und der Zuschauer miteinander. Ein außergewöhnliches Buch zum 80-jährigen Ende der Nazi-Herrschaft.
Besprechung vom 20.05.2025
Die Kapitulation war nicht das Ende
Der Historiker Gerhard Paul schildert ein wenig bekanntes Kapitel im Mai 1945: Die drei Wochen der Regierung von Hitlers Nachfolger, Großadmiral Karl Dönitz
Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht, aber nicht der nationalsozialistische Staat. Obwohl die Alliierten seit 1943 auf eine bedingungslose Kapitulation gepocht hatten, legten sie Generaloberst Alfred Jodl am 7. Mai in Reims und Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel am 9. Mai in Berlin-Karlshorst eine Kapitulationsurkunde vor, die sich auf die militärische Kapitulation beschränkte. Großadmiral Karl Dönitz, den Hitler in seinem "Politischen Testament" vom 29. April als seinen Nachfolger zum Reichspräsidenten und Oberbefehlshaber der Wehrmacht ernannt hatte, und seine geschäftsführende Reichsregierung amtierten jedoch noch zwei Wochen weiter. Ihr Territorium war der sogenannte Sonderbereich Mürwik, ein rund 14 Quadratkilometer großer Flecken Land, benannt nach dem gleichnamigen Ort in der Nähe von Flensburg.
Dieses auch als "Wurmfortsatz" des nationalsozialistischen Deutschlands titulierte Gebiet hatten die Briten, die Schleswig-Holstein besetzten, zunächst ausgespart. Erst am 23. Mai stürmten sie das Gelände der Marinekriegsschule und nahmen die Mitglieder der geschäftsführenden Reichsregierung sowie zahlreiche Wehrmachtsangehörige und SS-Leute fest. Am 5. Juni übernahmen die Alliierten schließlich offiziell die Regierungsgewalt in Deutschland.
Dönitz, der seit 1943 Oberbefehlshaber der Kriegsmarine war und der von Hitler bis zuletzt geschätzt wurde, weil dieser sich von ihm nicht im Stich gelassen fühlte wie von den meisten anderen Mitgliedern seines inneren Führungszirkels, hatte den bisherigen Finanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Seinem Kabinett gehörte unter anderen Albert Speer an, der wie schon unter Hitler als Rüstungsminister amtierte. Noch Hitler selbst hatte verfügt, dass die Reichsregierung von Berlin nach Schleswig-Holstein umziehen sollte, das damals noch von der Wehrmacht gehalten wurde. Sowjetischen Aufforderungen, nach Berlin zurückzukehren, kam die Regierung Dönitz nicht nach.
Warum die Siegermächte das Kabinett Dönitz nicht schon unmittelbar nach der Kapitulation festnahmen, ist bis heute nicht ganz klar. Eine Erklärung lautet, der britische Premierminister Winston Churchill habe für den Fall, dass Stalin entgegen den Vereinbarungen weiter nach Westen vorgerückt wäre, auf die Unterstützung der deutschen Soldaten zurückgreifen wollen. Eine andere besagt, die Siegermächte seien sich anfangs nicht sicher gewesen, ob Hitler tatsächlich Selbstmord begangen habe. Auch der Flensburger Historiker Gerhard Paul gibt hierauf in seinem Buch keine abschließende Antwort. Aber das ist auch nicht sein Ziel. Paul geht es nicht um neue Erkenntnisse über das Kabinett Dönitz. Sein Buch erzählt die wenig bekannte kuriose Geschichte von Hitlers Nachfolger und seiner Regierung anhand von Fotos für ein größeres historisch interessiertes Publikum. Paul hat sich auf dem Gebiet der "Visual History" einen Namen gemacht und ist einer ihrer Pioniere im deutschsprachigen Raum, 2020 veröffentlichte er das Buch "Bilder einer Diktatur", in dem er Fotos aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft analysiert.
Im Buch über die Regierung Dönitz findet sich zum Beispiel ein Foto, das aufgenommen wurde, als die Briten Dönitz, Speer und Jodl am Tag ihrer Gefangennahme der Presse vorführten. Da stehen drei führende Gestalten des Dritten Reiches am 23. Mai 1945 im Hinterhof des Flensburger Polizeipräsidiums. Dönitz im dunklen Tuchmantel eines Großadmirals, den er sich eigens zu diesem Zweck hat anfertigen lassen, wie Paul erläutert, Jodl im Ledermantel eines Generalobersten und Speer in einem modisch-hellen Trenchcoat. Paul verweist hier auf Humphrey Bogart, der 1942 in dem Film "Casablanca" einen solchen getragen habe. "Die drei wollen nicht wie Verbrecher oder verlumpte Verlierer vor der Weltöffentlichkeit stehen, sondern als ordentlich gekleidete Repräsentanten einer ehrbaren Streitmacht und eines funktionierenden Staates", lautet die Deutung des Flensburger Historikers.
Aber die drei Repräsentanten des nationalsozialistischen Deutschlands waren in ihrer Selbstdarstellung nicht völlig frei. Die Briten nahmen den beiden Reichswehrangehörigen vor der Pressevorführung Orden und Ehrenabzeichen. Sie durften für den Fototermin nur ihre Ritterkreuze behalten. Sein U-Boot-Kriegsabzeichen und seinen Feldmarschallstab musste Dönitz abgeben. Den Trenchcoat Speers interpretiert Paul als Ausdruck seiner späteren - sehr erfolgreichen - Verteidigungsstrategie, den "guten Nazi", den Zivilisten zu geben. Ein anderes Foto zeigt einen Zivilangestellten der Regierung Dönitz, der am 23. Mai für Unruhe sorgte, weil er von den Briten zunächst für Hitler gehalten wurde, dem er tatsächlich zum Verwechseln ähnlichsah, wie auf dem Bild zu sehen ist.
Bisweilen überflüssig in dem Buch ist nur die Rubrik, die am Ende der Kapitels mit "Übrigens" beginnt. Dann folgen Informationen wie etwa die, dass ein Münchener Auktionshaus Himmlers "Blutorden" 2016 für 20.000 Euro zur Versteigerung angeboten hat. Gewünscht hätte man sich als Leser eines Buches, das Geschichte über Bilder erschließen möchte, auch größere Fotos, die ruhig ganzseitig hätten sein dürfen. Aber all das ändert nichts daran: Das Buch ist eine informative und anregende Lektüre zu einem weitgehend unbekannten Kapitel des Kriegsendes. THOMAS JANSEN
Gerhard Paul: Mai 1945: Das absurde Ende des "Dritten Reiches". Wie und wo die Nazi-Herrschaft wirklich ihr Ende fand.
WBG Theiss im Herder Verlag, Freiburg 2025. 336 S.
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