Besprechung vom 29.04.2025
Karlsruhes vernachlässigte kleine Schwester
Ein Aufsatzband zeigt, wie wichtig das Bundesverwaltungsgericht für die junge Bundesrepublik war
Inzwischen gehört es zum guten Ton, dass Institutionen des demokratischen Rechtsstaats ihre Gründungsgeschichte untersuchen lassen. Jede Institution, die unter dem Grundgesetz geschaffen wurde, musste mit den Menschen arbeiten, die fachlich qualifiziert und verfügbar, meist aber eben auch mehr oder weniger in das nationalsozialistische Unrechtsregime verstrickt waren. Die Nachkriegsgeschichte rechtsstaatlicher Institutionen ist jedoch viel mehr. Sie ist eine Wirkungs- und Gründungsgeschichte in einer Zeit rechtlicher Transformation, die folgenreich war.
Wenn die (zeit-)geschichtliche Rolle von Gerichten überhaupt wahrgenommen wird, gerät traditionell allenfalls das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in den beiläufigen Blick. Vernachlässigt erscheint demgegenüber das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), das durch Gesetz vom September 1952 errichtet wurde und 1953 seine Arbeit aufnahm, als bereits circa 800 Verfahren anhängig waren. Anders als der Bundesgerichtshof, der gerichtsverfassungsrechtlich in die Funktion des Reichsgerichts einrückte, stand das BVerwG nicht in unmittelbarer Kontinuität zu einer Einrichtung. Das 1941 geschaffene Reichsverwaltungsgericht blieb eine folgenlose Episode der NS-Gesetzgebung, die im Übrigen schon damals Kosteneinsparung verfolgte.
Bürgerliche Freiheit und Gleichheit wird an vorderster Linie vor den Verwaltungsgerichten verteidigt. Diese stehen nicht im Rampenlicht öffentlicher Aufmerksamkeit, bilden dafür aber das rechtsstaatliche Rückgrat durch funktionierenden Rechtsschutz gegen die staatliche Gewalt. Die Formation des BVerwG in der Nachkriegszeit war daher von zentraler Bedeutung für die Etablierung rechtlicher Kontrolle einer Verwaltung, deren Belastung mit vorrechtsstaatlichem Denken über personelle Kontinuitäten weit hinaus ging. Klaus Rennert, von 2014 bis 2021 Präsident des BVerwG, hat mit sichtbar großem Engagement eine Untersuchung der ersten sechs Jahre des Gerichts vorangetrieben, deren Ergebnisse nunmehr in Buchform erschienen sind . Anders als sonst üblich wurden nicht externe Historiker beauftragt, die Geschichte einer Institution zu untersuchen. Das Projekt ist vielmehr fest im Gericht verankert. Sechs Mitwirkende sind oder waren dem BVerwG durch richterliche oder wissenschaftliche Tätigkeiten verbunden, die Geschichts- und Rechtswissenschaften der örtlichen Universität Leipzig haben sich (neben anderen) ebenfalls breit im Projekt engagiert.
Die Geschichtswissenschaft tut sich erfahrungsgemäß schwer damit, die normative Eigenrationalität rechtlicher Verfahren und Entscheidungen präzise zu historisieren. Was Dieter Grimm mit Recht für die geschichtliche Wirkung der Verfassungsgerichtsbarkeit moniert hatte, ist noch greifbarer für die Verwaltungsrechtsprechung, deren Gegenstände typischerweise komplexer und fachrechtlich voraussetzungsvoller sind. Überzeugende Wirkungsgeschichte eines Gerichts muss sich aber zumindest auch darauf einlassen, wie dort juristisch gearbeitet und argumentiert wurde und welche Folgen dies für die größere Rechtsentwicklung hatte. Durch die Verschränkung originär geschichts- und rechtswissenschaftlicher Beiträge gelingt dem Sammelband eine Verbundperspektive, die die Anfangsjahre des jungen BVerwG historisieren kann, ohne die bis heute nachwirkende innerjuristische Bedeutung auszublenden.
Immer wieder wird deutlich, wie stark das Preußische Oberverwaltungsgericht Selbstverständnis und Mentalität des BVerwG anfangs prägte. Der Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Trümmerdeutschland begann bereits unter Besatzungsrecht. Die Errichtung des BVerwG erfüllte dann den Auftrag des Artikel 95 Grundgesetz. Aufschlussreich ist der Detailreichtum, welche praktischen Schwierigkeiten sich bei der Errichtung eines neuen Gerichts stellten. Die Personalauswahl war prekär, die Ausstattung (nicht zuletzt mit einer Bibliothek) und Unterbringung logistisch herausfordernd. Politisch besonders umstritten blieb die Standortfrage. Konkurrierende Begehrlichkeiten im wiederauferstandenen Föderalismus wurden zugunsten deutschlandpolitischer Symbolik und den Standort Berlin (bis 2002) abgewehrt.
Wenig überraschend befasste sich die Verwaltungsrechtsprechung in den ersten Jahren vor allem mit Kriegsfolgen und politischem Systemunrecht. Von Anfang an hatte sich das Gericht auf den umfassenden Rechtsschutzauftrag ausgerichtet, den das Grundgesetz garantiert. Manche Rechtsprechungslinien waren Derivate der neuen Blockkonfrontation und ihrer Politisierung, sind also besser historisiert denn dogmatisiert zu verstehen. Immer wieder kam es jedoch zu Weichenstellungen, ein rechtsstaatliches Verwaltungsrecht unter dem Grundgesetz zu formulieren, dessen damals "neue Ordnung" (Rennert) noch gefunden werden musste.
Nur selten wurde das hintergründige Menschenbild so plastisch herausgeschält wie in der Fürsorgeentscheidung vom Mai 1954. Das BVerwG musste schon Grundrechtsfragen im Verwaltungsrecht beantworten, als sich das BVerfG noch in einer Selbstfindungs- wie Selbstbehauptungsphase befand, in der die Konturen eines liberalen Grundrechtsverständnisses erst seit 1957 sukzessive sichtbar wurden.
Das Gericht als Institution wirkte nicht nur durch seine Rechtsprechung. Mitglieder nahmen etwa rechtspolitisch auf die Gesetzgebung Einfluss. Dem Gericht und seiner Tätigkeit wurde bisweilen die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Presse zuteil, was zur Akzeptanz des bundesrepublikanischen Rechtssystems beigetragen haben dürfte. Dass Verwaltungsrechtsschutz die Waffe der Bürger sei, sich gegen bürokratische Willkür zu verteidigen, war offenbar schon in der jungen Bundesrepublik angekommen.
Natürlich spielte immer auch das belastete Personal eine Rolle. Schlussstrichhabitus, "Selbstamnestierung" und gegen politische Systemwechsel resilienter Opportunismus ließen sich wohl für die meisten Teile der Staatsorganisation im Nachkriegsdeutschland sehr ähnlich feststellen. Die politische Propaganda der DDR legt gerne den Finger in die braunen Wunden. Der Historiker Dirk van Laak wirft mit Recht die Frage auf, warum die Rechtsprechung ihrem Inhalt nach trotz der NS-Belastung der Richterbänke immer wieder grundrechtlich ihrer Zeit voraus war. Opportunismus, Reue, Gesinnungswandel? Für eine gelungene Transformation ist das vielleicht nachrangig. Herauspräpariert wird aber auch die Persistenz von Ressentiments und autoritären Grundhaltungen. Gerade diese Ambivalenz fordert anspruchsvolle Erklärungen.
Der vielschichtige Sammelband stellt die Entstehungshistorie des BVerwG, das für den Aufbau der freiheitlichen demokratischen Ordnung nicht weniger bedeutend war wie seine große Schwester in Karlsruhe, mit eindrucksvoller Farbtiefe und Lebendigkeit vor. Institutionengeschichte des Rechts ist ohne engagierte Rechtswissenschaft nicht zu schreiben, die ihrerseits von der Offenheit und anspruchsvollen Kontextsensibilität der Geschichtswissenschaft lernen kann. KLAUS FERDINAND GÄRDITZ
Bundesverwaltungsgericht (Herausgeber): Geschichte des Bundesverwaltungsgerichts. Errichtung und Konsolidierung (1953-1959).
C.H. Beck Verlag, München 2025. 579 S.
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