Besprechung vom 13.09.2024
Wiehern, Schnauben, Bellen
In der Stadt und auf dem Feld: Hans-Ulrich Schiedt erzählt eine Geschichte der fast vergessenen Arbeitstiere.
Um das Jahr 1910 sind in Bern dreihundert Zughunde registriert. Zughunde sind Arbeitstiere, die Gewerbetreibenden, Hausierern und Bauern gehören. Sie ziehen Karren mit Milchkannen und selbstgeflochtenen Körben, mit Kohle und Abfall. Ohne Zughunde würde die Infrastruktur schlicht nicht funktionieren. Erst in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verschwinden sie aus dem Stadtbild. Auch aus unserem Bewusstsein sind sie verschwunden, und nicht nur sie.
Der Züricher Historiker Hans-Ulrich Schiedt holt sie aus der Versenkung: die Pferde und Esel, Maultiere und Hunde, die Rinder - und die Menschen, die mit ihnen tagtäglich unterwegs waren, sie fütterten und anleiteten, pflegten und zuweilen auch schlugen. Mit seiner Pionierstudie zu den heute weitgehend vergessenen Arbeitstieren, die am Archiv für Agrargeschichte in Bern entstanden ist, führt Schiedt eine Gattung ein, die nicht in unser gängiges Kategorienpaar von Nutztier und Haustier passt. Das Arbeitstier nützt zwar den Menschen, aber nicht einfach als nur passiver Fleisch- und Milchlieferant, und es lebt schon gar nicht in deren guter Stube als ihr bester Freund. Das Arbeitstier, schreibt Schiedt, hat zusammen mit den Menschen unsere heutige Welt geschaffen.
Der Autor korrigiert das weit verbreitete Bild, wonach die Modernisierung, also der technische Fortschritt mit Dampfmaschine, Eisenbahn und Elektrizität, die Arbeitstiere überflüssig gemacht habe und diese ein Relikt der Vormoderne seien. Wie Schiedt mit Zahlenreihen für die Schweiz zeigen kann, die grosso modo auch für andere westeuropäische Länder gelten dürften, hätte die Modernisierung ohne die gigantische Arbeitsleistung der Tiere gar nicht stattfinden können. Die Zunahme der Bevölkerung, das Wachstum der Städte und die Beschleunigung des Warenverkehrs erforderten den intensiven Einsatz der Tiere. Was die Eisenbahnen in die Bahnhöfe der Städte brachten, musste von dort aus schnell weiterverteilt werden. Dafür brauchte es Tiere, Arbeitstiere. Ihre Zahl nahm noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu.
Die ersten Trams in den Städten wurden von Pferden bewegt. Auf Schritt und Tritt stießen Städterinnen und Städter auf Arbeitstiere, streichelten sie oder schreckten vor ihnen zurück, hörten das Wiehern, Schnauben und Bellen, rochen Fell und Urin. Diese waren nicht nur in Bewegung, sie mussten oft warten, bis die von ihnen gezogenen Wagen beladen und entladen und ihre Herrchen und Besitzerinnen von der Pause zurück waren. Die Arbeitstiere machten den Menschen bewusst, dass sie mit den Leuten vom Land verbunden waren, von denen sie ernährt wurden.
Auch die Landwirtschaft war für ihre "Agrarrevolutionen", also die intensivierte Düngung und die Mechanisierung der Tätigkeiten, auf Arbeitstiere angewiesen, besonders auf Pferde und Rinder. Dank ihnen bewältigte sie die Steigerung der Nahrungsproduktion. Lange blieben Motoren, deren Leistung in PS, in "Pferdestärken", gemessen wurde, teurer und unzuverlässiger als die Tiere. Diese zogen die schweren Maschinen an ihre Einsatzorte auf den Feldern.
In schriftlichen Quellen haben die Tiere kaum Spuren hinterlassen, am meisten noch die in der Hierarchie obenstehenden Pferde, doch mehr die edlen Dressur- und Offizierspferde, die lange Adel und Bürgertum vorbehalten waren, als die Acker- und Droschkengäule. Schiedt hat aus der Not eine Tugend gemacht und für seine Studie viele bildliche Quellen benutzt, vor allem Fotografien, für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auch Filmaufnahmen. Fast hundert Bilder sind in seinem Buch abgebildet, die den Einsatz der Arbeitstiere in unterschiedlichen Kontexten belegen. Auffallend ist die häufige Präsenz von Kindern, die gerade auf dem Land oft für die Tiere zuständig waren. Im Sommer vertrieben sie mit Zweigen die Insekten, welche die schwitzenden Rinder und Pferde plagten.
Irritierend bleibt, mit welcher Radikalität wir die Arbeitstiere aus unserem Bewusstsein verdrängt haben. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Menschen wollten nicht wahrhaben, dass sie die Moderne nicht allein geschaffen haben, oder sie wollten nicht daran erinnert werden, dass sie mit den Tieren einst vielschichtige und tiefe Beziehungen unterhielten. Die Geringschätzung der Arbeitstiere fängt früh an. Schiedt zeigt, dass diese sozusagen kulturell zum Verschwinden gebracht wurden, bevor sie das Feld beziehungsweise die Stadt real räumen mussten.
Einerseits drückten die Apologeten von Technik und Fortschritt den Tieren schon im neunzehnten Jahrhundert den Stempel des Rückständigen auf. Von späteren Historikern seien diese vorschnellen Urteile unbesehen übernommen worden, schreibt Schiedt. Andererseits machte der vom Bildungsbürgertum forcierte Tierschutz und Hygienediskurs den Arbeitstieren den Garaus. Die sich selbst als fortschrittlich einschätzenden Bürger bezeichneten den Einsatz etwa von Zughunden als Tierquälerei und olfaktorische Zumutung. Sie wollten nur ihre kultivierten Haustiere in der Stadt sehen. Dabei schwang eine verächtliche Note gegen die "Promenadenmischungen" und ihre Besitzer mit, die sich in den unteren Zonen der Gesellschaft durchschlugen.
Um 1950 kommt in unseren Breitengraden das Ende der Arbeitstiere. Nun erst unterliegen sie der Massenmotorisierung. Sie verschwinden zwischen Nutztieren und Haustieren. Und doch ist ihre Geschichte nicht vorbei. Der Esel etwa, der als Arbeitstier eine bescheidene Rolle spielte, ist heute so verbreitet wie noch nie. Die Schweiz zählt fünfmal mehr Esel als um 1900. Das Tier, schreibt Schiedt, sei zum pädagogischen Streichelwerkzeug und nostalgischen Erinnerungsobjekt geworden. Man bemüht sich nun sogar um den Erhalt "alter Rassen", obschon diese den Zeitgenossen des neunzehnten Jahrhunderts herzlich egal waren. URS HAFNER
Hans-Ulrich Schiedt: "Auf den Spuren der Arbeitstiere". Eine gemeinsame Geschichte vom ausgehenden 18. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Chronos Verlag, Zürich 2024. 340 S., Abb., geb.
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