Politik und Literatur: Hans Wißkirchens große Biographie über Heinrich und Thomas Mann
»Was reden doch die zwei unwissenden Magier da? « Das dachte Golo Mann immer wieder, wenn er Heinrich und Thomas, seinen Onkel und seinen Vater, über Politik reden hörte. Wie aber steht es wirklich um die politische Urteilskraft dieser beiden großen Autoren des 20. Jahrhunderts? Wie wurden diese beiden Bürgersöhne aus Lübeck zu glühenden Verteidigern der Demokratie? Hans Wißkirchen, Präsident der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft, zeichnet in seiner Biographie der Brüder ein differenziertes Bild, bei dem Politik und Literatur nicht zu trennen sind und das dank bisher unbekannter Briefe vor allem die Zeit des frühen Exils in ein neues Licht rückt. Weil erstmals beide Brüder gleichberechtigt zu Wort kommen, korrigieren sie sich immer wieder gegenseitig. Beide kommen aus dem ideologischen Raum der Jahrhundertwende. Demokratie ist für beide keine Selbstverständlichkeit. Gerade deshalb wissen sie, was auf dem Spiel steht, und kennen die Gegner ganz genau. Ein engagiertes, unverzichtbares Buch über Heinrich und Thomas Mann und die wiederkehrende Bedrohung der Demokratie.
Besprechung vom 07.06.2025
Gefälle in krasser Form
Heinrich und Thomas Mann waren als Brüder fast lebenslang Rivalen. Hans Wißkirchen widmet ihnen eine Doppelbiographie, und ein Essayistikband zeigt Heinrich Manns Schwächen.
Im Jahr 2015 erschien Helmut Koopmanns große, mehr als fünfhundert Textseiten umfassende Doppelbiographie der "ungleichen Brüder" Heinrich und Thomas Mann. Am Ende des Buchs dankt der Verfasser neben anderen auch Hans Wißkirchen, dem langjährigen Leiter des Buddenbrook-Hauses in Lübeck, für hilfreiche Forschungsbeiträge. Vor einigen Wochen erschien nun Wißkirchens etwas schmalere, nämlich vierhundert Seiten zählende Doppelbiographie der beiden von Golo Mann einmal als "Magier" bezeichneten Bewusstseinszauberer. Am Ende dankt Wißkirchen neben anderen Helmut Koopmann, dessen "grundlegende Studie" ihm "ein wichtiger Wegweiser" gewesen sei. Sofort drängt sich die Frage auf, worin sich die beiden Doppelporträts unterscheiden und ob Wißkirchens Novellierung einen Mehrwert hat, der die Lektüre lohnt. Die Antwort heißt Ja, auch wenn Koopmanns Darstellung nicht geradezu überholt, sondern nur um Details erweitert und unter einigen Aspekten analytisch verschärft wird.
Wie Koopmann unternimmt Wißkirchen einen kompletten Gang durch Leben und Werk der Brüder und macht die Rivalitäten, die deren Verhältnis zueinander bis in die Zwanzigerjahre hinein stark eintrübten, nicht nur in Briefen und Tagebuchnotizen dingfest, sondern auch in beider Romanen und Erzählungen, in denen zahlreiche korrespondierende Motive, Gestalten und Formulierungen zu finden sind. Einzelne Dokumente wie Thomas Manns geradezu hasserfüllter Brief vom 5. Dezember 1903 und Heinrich Manns Entwurf einer Antwort werden ausführlich erörtert. Mehrfach weist Wißkirchen darauf hin, dass neue Quellen - zahlreiche Briefe und Postkarten - einen schärferen und vor allem einen weniger einseitig durch Thomas Mann geprägten Blick ermöglichten; umwerfend Neues gibt es freilich nicht. Auch Koopmann war schon gut informiert und kannte sich in den Werken der Brüder Mann bestens aus.
Rezensenten seines Buches vermissten 2005 eine angemessene Thematisierung des für Heinrich und Thomas Mann gleichermaßen wichtigen Komplexes Sexualität. Dieses Manko wird von Wißkirchen gründlich und ostentativ behoben. Die unterschiedliche sexuelle Orientierung der Brüder Mann, ihre divergierende Einschätzung der Sexualität als einer bei Heinrich eher produktiven und bei Thomas eher destruktiven Lebenskraft sowie der "Konnex von Sexualität und Politik" bilden geradezu das Gravitationszentrum von Wißkirchens Ausführungen. Heterosexuelle Sinnenfreude, weibliche Impulsivität und Demokratie gehörten bei Heinrich Mann eng zusammen, während bei Thomas Mann Homosexualität in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" zunächst mit heroisch-deutscher Männerbündelei und Kameraderie assoziiert und erst später, in der Rede "Von deutscher Republik", mit Demokratie in Verbindung gebracht wurde, inspiriert durch Walt Whitman, den homosexuellen "Sänger der Demokratie". Im Werk, so Wißkirchen, zeige sich dieser Gegensatz immer wieder, zuletzt und ganz deutlich noch im Kontrast zwischen Heinrich Manns passioniertem Schürzenjäger Henri Quatre und Thomas Manns "keuschem Joseph", einer Figur aus der "stillgestellten" und "nicht ausgelebten Homosexualität" des Verfassers der "Joseph"-Tetralogie.
Abgesehen von dieser thematischen Erweiterung oder Intensivierung liegt der Unterschied zwischen Koopmanns und Wißkirchens Doppelporträt weniger in der Fülle der Beobachtungen als vielmehr in der bei Wißkirchen sehr viel stärkeren wechselseitigen Profilierung der beiden Autoren, fokussiert auf wichtige programmatische Begriffe - Internationalität versus deutsche Repräsentativität, Popularität versus Größe, Demokratie versus Monarchie, Heterosexualität versus Homosexualität - und mit dem Mut zu entschiedenen Urteilen durchgeführt. Wißkirchen ist sichtlich um eine Aufwertung Heinrich Manns bemüht und weist immer wieder darauf hin, wie oft dieser in der Einschätzung der politischen Entwicklung hellsichtiger war als Thomas Mann, eine größere seismographische Empfindlichkeit und prophetische Weitsicht hatte.
Das Eintreten für Heinrich Mann hindert Wißkirchen aber nicht, dessen Blindheit gegenüber dem Stalinismus als "Tiefpunkt" seines politischen Denkens zu bezeichnen und die literarischen Schwächen eines guten Teils seiner Romane einzuräumen. Auf Ebenbürtigkeit kann nicht befunden werden, und im gemeinsamen amerikanischen Exil (von 1940 an) tritt das Gefälle zwischen Thomas und Heinrich Mann in krasser Form zutage, sosehr sie, längst miteinander versöhnt, sich wechselseitig anerkennen und rühmen. Thomas Mann wird der Repräsentant des deutschen Exils und eine sowohl gefeierte als auch gut situierte literarisch-politische Größe, während Heinrich Mann kaum mehr Gehör findet, zunehmend vereinsamt und dauerhaft auf die finanzielle, emotionale und lebenspraktische Unterstützung durch seinen Bruder und dessen Frau Katia angewiesen ist.
Das Nachlassen von Heinrich Manns Schaffenskraft spiegelt sich nicht nur in seinen letzten, in Amerika geschriebenen Romanen, sondern auch in den politischen und literarischen Artikeln seines letzten Lebensjahrzehnts, die jetzt als Band 9 seiner Essayistik und Publizistik ediert wurden: Rückblicke auf den Untergang der Weimarer Republik ("sie wollte nicht kämpfen") und auf das Exil in Frankreich, Einschätzungen Hitlers und des Faschismus ("Agent nicht der Junker, sondern der Fabrikanten"), Äußerungen zur Kriegslage, Aufrufe an die Deutschen, Vorschläge für die Nachkriegszeit und die nötige Umerziehung der Deutschen wechseln mit Buchbesprechungen und kenntnisreichen Porträts von Schriftstellerkollegen wie Max Herrmann-Neiße, Egon Erwin Kisch, Berthold Viertel und selbstverständlich auch Thomas Mann. Großes Gewicht kommt dem neun Seiten umfassenden Essay "Der König von Preußen" zu, mit dem Heinrich Mann ein altes, von Thomas Mann 1915 angeschlagenes Thema aufgriff; die Perspektive wird durch eine im Kommentarband wiedergegebene Notiz - "Son dernier successeur, Hitler" - verdeutlicht. Thomas Mann registrierte die Lektüre in seinem Tagebuch am 18. Januar 1949 kommentarlos.
Kaum einer der in dem neuen Band enthaltenen Artikel erreicht die analytische und stilistische Qualität der Essays, durch die Heinrich Mann seit 1910 berühmt wurde und mit denen er in den Dreißigerjahren zum Sprecher des deutschen Exils und der Volksfrontbewegung wurde. In seinen Ausführungen über die Sowjetunion als neue Form von Demokratie und in der Erwartung, Berliner Arbeiter könnten im Frühjahr 1945 auf ein wegweisendes Wort von ihm warten ("An das Volk von Berlin!"), zeigt sich sein politischer und publizistischer Illusionismus. Die zeitanalytische Bedeutung der Artikel aus dem letzten Jahrzehnt ist sehr begrenzt. Dank der überaus umsichtigen Erläuterungen der Herausgeber, die aus transatlantischen Archiven und Forschungsstätten auf 1200 Kommentarseiten (gegenüber 400 Textseiten) alles zusammengetragen haben, was zur Entstehung und Verbreitung der Artikel zu finden war und zum sachlichen Verständnis sowie zur politischen Einordnung hilfreich ist, erweist sich die Edition aber als eine Fundgrube für Informationen über das Leben, Politisieren und Schreiben im amerikanischen Exil. HELMUTH KIESEL
Hans Wißkirchen: "Zeit der Magier". Heinrich und Thomas Mann 1871-1955.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2025.
464 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Heinrich Mann: "Essays und Publizistik". Band 9: 1940-1950.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2025.
1230 S., geb.
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