Besprechung vom 09.04.2025
Kunst in Gefahr
Hartmut Langes neuer Novellenband
Über die Jahre hat Hartmut Lange den ein oder anderen Literaturpreis bekommen. Gäbe es jedoch eine dezidiert Novellen gewidmete Auszeichnung, wäre der 1937 geborene Berliner Schriftsteller darauf abonniert. Er ist ein Meister des Numinosen, ein Virtuose der sprachlichen Verdichtung, ein Jongleur mit den Rätseln des Lebens. Ein großer Unbekannter ist er auch. Das wird wohl leider auch sein neuer, wieder im Umfang schmaler und im Gehalt überwältigender Band nicht ändern.
Unheimlich und merkwürdig geht es zu in drei Texten. Nie gibt es eine einfache Erklärung, weil nun mal nichts eindeutig fassbar ist. Umso schöner ist es, wie Lange seine Texte in glasklar präziser Sprache entwickelt, womit er erreicht, dass sie nach der Lektüre nachhallen und auf Enträtselung drängen, was den geschilderten Begebenheiten dann auch ein wenig von ihrer Unerhörtheit nimmt.
Der titelgebende etwa vierzigjährige Mann ist quer durch die Jahrhunderte unterwegs auf der Suche nach vom Menschen erschaffener Schönheit. Dazu steigt er zu Beginn des Textes, der sich zu einem der exzellentesten entwickeln wird, die man in jüngster Zeit lesen konnte, in einen Reisewagen, um quer durch Gegenden und Epochen den Zauber und die Tröstungen von Kunst an ihren Originalschauplätzen zu besichtigen und wichtigen Protagonisten zu begegnen. Er gelangt nach Rom zum Kolosseum, wo die Überwältigung durch Größe und Geborgenheit sich bald in Schrecken über die bejubelten Todeskämpfe zwischen Mensch und Tier verwandelt. Im Tiber schwimmen Leichen. Außerhalb der Stadt erwartet ihn Seneca, der ihm Fragen stellt, ansonsten auf Weisung seines Zöglings Nero mit der Vorbereitung des dritten Selbstmordversuchs beschäftigt ist, der endlich gelingen wird. Danach führt den Reisenden der Zeittunnel in die "Stadt, in der die Kunst zu Hause ist": Florenz. Doch erwartet ihn Savonarola am Ponte Vecchio. Der will Ordnung in die Stadt bringen, weil die Medici zu viel Geld für Kunst verpulvern. Auf eigene Faust besucht der Gast Botticelli, derweil sein Gastgeber den Aufstand probt. Der Reisende gelangt nach Zürich, wo der vierundzwanzigjährige Georg Büchner begraben wurde, der gerade noch in "Leonce und Lena" die Desillusion der Tänzer mit den todmüden Augen beschrieben hatte. Zurück in Florenz, warnt Botticelli: "Kunst, das müssen Sie wissen, ist immer in Gefahr." Nirgendwo finden Goethes Worte aus "Faust II" Erfüllung: "Zum höchsten Daseyn immerfort zu streben . . ."
Im Weimar der Goethezeit dann wird die vermeintliche Kindsmörderin Anna Catharina Höhn hingerichtet. In Paris schafft der Berufshenker Charles-Henri Sanson einen Kopf pro Minute. Hinter der Torinschrift "Arbeit macht frei" schließlich wird die Grausamkeit unbeschreiblich. Hartmut Langes furioser Warntext, der Höhepunkte humanen Schaffens unserer abendländischen Kultur mit ihren Gefährdungen überblendet, bekommt vor den Spardiskussionen der Gegenwart eine umso beängstigendere Dimension. Man möchte ihn einrahmen und über die entsprechenden Schreibtische hängen.
Um eine andere Schönheit geht es im auf ein Hörspiel von Lange zurückgehenden humorgrundierten zweiten Text: um die einer unnahbaren Frau. Die liebt am meisten Gedichte von Stefan George und hat gerade ihren Mann in einem Duell im Spandauer Forst verloren. Der junge Leutnant von Sedlitz ist außerstande, die Todesnachricht an diese Frau zu überbringen, die ihn in lasterhafter Kälte um- und empfängt. Bis eine "unwiderstehliche Form von Ermüdung" vor den Ehrbegriffen aus einer anderen Zeit zu konstatieren ist im ausschwingenden Offiziersmilieu des Jahres 1910.
Ein Selbstmord beschließt auch den dritten Text und das Buch. Vor dem Erlösungsschuss bezahlt der Petersburger Kornhändler Ordinow auf der Durchreise einen Fremden fürs kommentierende Zuhören bei seinen finalen philosophischen Sottisen. Kunst, Frauen und Pistolen begründen in drei Varianten die aus Prinzip unergründliche Sehnsucht nach dem Höheren. Überall Störfaktoren, atmosphärische Brüche und dunkle Fieberkurven. In drei neuen Variationen führt Hartmut Lange seine Figuren nah und näher an den Abgrund und öffnet uns die Augen dafür. ULRICH STEINMETZGER
Hartmut Lange: "Der etwa vierzigjährige Mann".
Diogenes Verlag, Zürich 2025. 114 S., geb.
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