Besprechung vom 26.04.2025
An Katastrophen kein Mangel
Lässt sich aus der Geschichte lernen? Hartmut Lehmann sucht in vergangenen Katastrophen das Rettende - und findet nicht viel
Eigentlich will Hartmut Lehmann in seinem schmalen Band "Apokalypsen" die Frage beantworten, ob man aus der Geschichte lernen könne. Mit Blick auf vergangene Verheerungen und deren Bewältigungen hofft er auf rettende "Lektionen" für unsere Gegenwart, für das "Anthropozän", das ökologisch und vielleicht sogar kriegerisch, wie Auguren behaupten, aus den Fugen zu geraten droht. Nach und nach aber gerät der Essay zu einem katastrophischen Gang durch die Zeiten, der im Heute kulminiert. Die tröstliche Einsicht, die Historiker immer wieder aus ihrem Schaffen ziehen dürfen, nämlich dass die Lage auch schon aussichtsloser war, ist geschwunden. Der Unterton des Bändchens lautet: Schlimmer geht nimmer.
Auch Hartmut Lehmann, Jahrgang 1936, ist Historiker. Der Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Instituts in Washington und ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen schaut aber nicht altersmilde oder gar lebensmüde zurück, sondern sympathisiert mit der alarmierten, ja endzeitlich gefärbten Haltung einer Jugend, die sich "Last" oder auch "Lost Generation" nennt. Dass der Autor seinen kenntnisreichen Blick in die Geschichte, mit dem er die für seine Frage relevanten Ereignisse erfasst, in einer eindringlichen, schlichten und klaren Sprache präsentiert, macht die Lektüre des Essays umso beklemmender.
Vier historische Großkatastrophen, die alle Europa heimsuchten, stellt Lehmann vor: die Pest des vierzehnten Jahrhunderts, die ein Drittel der Bevölkerung ausgelöscht haben soll, die "kleine Eiszeit" des ausgehenden sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, die mit Hungersnöten, Seuchen und Kriegen (inklusive dem Dreißigjährigen Krieg) einherging, sowie die beiden Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts (die manche Historiker den zweiten Dreißigjährigen Krieg nennen). Leitmotivisch lässt Lehmann sich bei seinem chronologischen Gang von den vier "apokalyptischen Reitern" des Neuen Testaments begleiten, die Gewalt, Krieg, Hunger und Krankheit über die Menschen brachten und bringen.
Albrecht Dürer hat um 1500 diese Reiter in einem Holzschnitt dargestellt, von dem ein Ausschnitt auf dem Schutzumschlag des Buchs zu sehen ist. Lehmann erwähnt ihn nur beiläufig, wenn auch sonst Theologie und Religion im Buch viel Platz erhalten. Einen optimistischen Akzent setzen natürlich auch sie nicht.
Nimmt man weitere Kriege und Seuchen hinzu, an denen kaum je Mangel herrschte, wie Lehmann ausführt, wird deutlich, dass die Mehrheit der Bevölkerung in den hiesigen Breitengraden die längste Zeit unter widrigsten Bedingungen ums Überleben zu kämpfen hatte. So gesehen hat Glück, wer in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zur Welt gekommen ist; noch eine "Gnade der späten Geburt". Und Glück hat vielleicht, wer die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts nicht mehr erleben muss.
Kann man aus der Geschichte lernen? Die meisten Historiker würden das verneinen. Aus der Vergangenheit sind keine "Lektionen" zu ziehen, Geschichte wiederholt sich nicht. Auch Lehmann kann sich dieser Ansicht nicht entziehen. Die eine "pragmatische Lektion", die er gefunden hat, vermag nicht wirklich zu überzeugen: Die vierzigtägige Quarantäne, welche die Venezianer zur Zeit der Pest für einlaufende Schiffe verhängten, sei während der Corona-Pandemie wieder angewandt worden. Das wäre auch ohne Venedig geschehen.
Zu lernen wäre also einzig, dass nicht gelernt wird. Die historische Konstante, die der Autor hervorhebt, sind Verschwörungstheorien und ihre Sündenböcke. Für die Pest im Mittelalter wurden die Juden verantwortlich gemacht, für die Seuchen und den Hunger im kalten siebzehnten Jahrhundert mussten die Hexen büßen, die Nationalsozialisten schossen sich wieder auf die Juden ein, ohne dass sie auf großen Widerstand gestoßen wären. Die Aufklärung mit ihrem Vertrauen in Vernunft und Toleranz und das späte neunzehnte Jahrhundert, das den Seuchen und dem Hunger den Garaus machte, sind für den Autor nur kleine Verschnaufpausen vor dem jeweils nächsten Aufgalopp.
Immerhin hat der Historiker eine Ausnahme gefunden. Die englischen Quäker, befindet er, hätten aus der Kriegsnot des siebzehnten Jahrhunderts nachhaltig gelernt. Uneingeschränkt habe sich diese Gemeinschaft dem Pazifismus und der sozialen Arbeit verschrieben, selbst als sie angefeindet wurde und in die Vereinigten Staaten flüchtete, wo ihre Traditionen noch heute lebendig seien. Verwandt mit ihnen sieht Lehmann die Mennoniten und Baptisten, die einen Mann wie Martin Luther King hervorbrachten. Der Autor führt weitere Vorbilder an, darunter Mahatma Gandhi, Albert Einstein, Paul Tillich, Václav Havel. Auch eine Frau ist darunter, Edith Stein. Ob diese "Role Models" die neue Generation zu inspirieren vermögen? Fraglich bleibt auch, ob sich die vier wilden Reiter von Intellektuellen aufhalten lassen. URS HAFNER
Hartmut Lehmann: "Apokalypsen". Lektionen aus vergangenen Katastrophen.
Unter Mitarbeit von Lukas Lehmann. Wallstein Verlag, Göttingen 2025. 192 S., geb.
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