
Erzählung? Essay? Journal? Memoir? Gedicht? Gebet, Beichte, Beschwörung, Provokation oder Slapstick? Laut oder leise? Krass oder weise? Überraschend und verstörend, poetisch und tief anrührend ist Hiromi It_s Literatur, gleich, welches Genre sie bedient. Die vorliegende Textauswahl gibt Gelegenheit, diese außergewöhnliche Literatin kennenzulernen, von ihren Anfängen als zornige junge Dichterin, viel beachtet und gefeiert seit ihrem Debüt Ende der 1970er-Jahre, mit ihren neuartigen Themen und einem unverwechselbaren, dabei genuin dichterischen, frischen Tonfall, bis in die Gegenwart der 2020er-Jahre - eine Frau, die sich beim Altwerden zuschaut und »mit allen Wassern gewaschen« ist.
Hiromi It_ durchkreuzt mit ihrer Sprachkunst und Imagination sämtliche Genres und reißt Grenzen nieder. Die vorliegende Sammlung von Texten aus 45 lebensprallen, schaffensdichten Jahren verspricht Einblicke in ein Künstlerleben voll ungeahnter Ausdrucksformen und Erkenntnisweisen, beginnend mit einem Liebesgedicht, endend mit einem Manifest.
Besprechung vom 13.09.2025
Die Herzhäckslerin
Um über Grausamkeit schreiben zu können, muss die Liebe groß sein: Hiromi Ito zum Siebzigsten
Auch wer bisher über keinerlei Kenntnis der japanischen Sprache verfügte, wird sich nach der Lektüre dieses Bandes zumindest den "Dreifachbaum" merken, das so eingängige und eindrückliche Schriftzeichen für "Wald". Aus drei baumartigen Piktogrammen zusammengesetzt, demonstriert es mit überwältigender Evidenz den visuellen Zusammenhang von Zeichen und Bedeutung. Aber was passiert, wenn eine Autorin beginnt, Bedeutung zu "häuten", sie zu hinterfragen und zu zerstückeln, dies gar zu ihrem Programm erhebt?
In der Anthologie "Garstiger Morgen" sind markante Texte Hiromi Itos von ihren literarischen Anfängen und ersten Erfolgen bis zur Gegenwart versammelt. Die jüngsten führen direkt in den Wald. "Berliner Bäume" heißt ein Stück von 2022, das sich den Berliner Linden und Blutbuchen widmet, und "Die Hildisvini" von 2024 schildert Waldspaziergänge mit dem Hund in Japan. Hier erlangen die Bäume ihre besondere Bedeutung, weil es immer wieder zu Begegnungen mit Wildschweinen kommt. Die Wildschweine verstecken sich im Gebüsch oder flüchten zwischen den Stämmen davon. Sie werden von Eicheln, wilden Kakis, Birnen, Scheinkastanien angelockt, und die Bäume wandeln sich von der ästhetischen Kulisse für den Menschen zu Bezugspunkten für die Tiere, werden Nahrungslieferant, Schutzspender, Schubbermöglichkeit.
Während sich das Bild der Bäume gleichsam im Hintergrund sachte verändert, sobald die Perspektive vom Menschen zum Tier gleitet, treffen die drei Wesen Mensch, Wildschwein, Hund immer wieder in spannungsreichen Momenten aufeinander, fürchten sich, halten stand, blicken sich an. Der Ich-Erzählerin "kommt es so vor, als sei die Begegnung mit Wildtieren ein fundamentales Ereignis im Leben".
Und tatsächlich konzentriert sich in diesen Tierbegegnungen das, was die Literatur von Hiromi Ito ausmacht, die Faszination der Berührung, des Berührtseins durch den anderen. Ihr Werk kreist um die Ambivalenz, die ein Gegenüber unvermeidlich auslöst, um Macht und Anziehung, Gewalt und Sinnlichkeit, Liebe und Vergehen, um Kommunikation und ihr Scheitern. Verschiedene Formen von Nähe spielt Ito an Familienthemen durch, die sich wie von selbst ins Gesellschaftspolitische wenden. Schwierige Eltern-Kind-Beziehungen zeigen die strukturelle Gewalt des Patriarchats, in komplizierten Liebschaften über Kontinente hinweg spiegeln sich auch die internationalen Beziehungen.
Schon mit ihren frühen Gedichten wurde Ito zur Skandalautorin. Sie wagte es nicht nur, Tabuthemen wie Menstruation, Abtreibung, weibliche Sexualität in direkter, ja drastischer Sprache zu behandeln, sie verstieß nicht nur gegen die jahrhundertealte Konvention, als Japanerin stets anschmiegsam zu wirken und keinerlei negative Gefühle zu zeigen, sondern sie deckte auch auf, inwieweit alle privaten Kontakte von den gesellschaftlichen Verhältnissen durchdrungen sind, und es ist ihr großes Verdienst, einen emanzipatorischen Wandel vorangebracht zu haben, der jüngeren Autorinnen eine andere Ausgangslage verschafft.
Die vorliegende Auswahl versammelt Gedichte und Prosa aus 45 Jahren. Konsequent in linksbündigem Flattersatz gedruckt, gehen die Textsorten ineinander über. Ob Langgedicht oder lyrischer Essay: Noch heute haben auch die frühen Texte nichts von ihrer Wirkung verloren. "Harakiri" über die ästhetisch-erotischen Konnotationen des rituellen Suizids, "Mutter töten" über die Hassliebe zwischen Mutter und Tochter, oder "Kanako töten", Letzteres kurz nach der Geburt von Itos Tochter Kanako geschrieben, lösen nach wie vor Unbehagen, wenn nicht Entsetzen, genauso aber auch Bewunderung für ihre Kühnheit aus.
Eine zentrale Position in diesem Überblick nimmt ein langes Prosagedicht ein, das die Legende vom grausamen Landvogt Sancho Dayu weiter- und neu schreibt. "Ich bin Prinzess Anju" erzählt die Geschichte eines Mädchens, das von seinem Vater verstoßen und misshandelt, von weiteren Männern gequält und verfolgt, aber auch immer wieder von Vatergestalten unterstützt und gerettet wird. Das Gedicht beginnt mit einer unerhört absurden Situation. Das Neugeborene Anju wird auf Geheiß des Vaters "an einer sandigen Stelle in der Nähe des Flusses eingegraben". Dann warten die Eltern drei Jahre, ob das Kind überlebt. An dieser Stelle vergraben viele Leute ihre Babys, Anju ist von den Körpern der dahinsiechenden Säuglinge umgeben, hört sie weinen, atmen, sterben. Ihr selbst hat ihre Mutter ein Schilfrohr ins Ohr gesteckt, durch dieses saugt sie Tau, und es gelingt ihr schließlich zu entkommen.
Diese groteske Szenerie eingegrabener Kinder, die wie eine makabre Erfindung der Autorin anmutet, erinnert, und dies macht das Ganze womöglich noch verstörender, an die buddhistische Praxis Sokushinbutsu, die Selbstmumifizierung, die im nördlichen Japan bis ins neunzehnte Jahrhundert ausgeübt wurde. In einem Programm von dreimal tausend Tagen unterzogen sich die Mönche einer speziellen gewebekonservierenden Diät, um durch extreme schmerzhafte Askese die Buddha-Natur zu erreichen und ins Nirwana einzugehen. Den dritten Teil dieses Prozesses verbrachten sie eingegraben in einer Gruft, nur durch einen Lufthalm und eine Signalglocke mit der Außenwelt verbunden. Wenn die Glocke nicht mehr ertönte, wurde die Gruft geöffnet und der Zustand des Leichnams überprüft. Noch heute kann man die Mumien derjenigen Mönche, denen die Prozedur gelang, in Japan besichtigen.
Hiromi Ito verfolgt eine Ästhetik des Schocks, deren Kehrseite in tiefem Mitgefühl und einer Hingabe an das jeweilige Gegenüber mit all seinen Verletzungen und Schwächen besteht. Um über Unrecht und Grausamkeit schreiben zu können, muss die Liebe immer größer sein.
Dies ist ein radikaler Ansatz. Er zeigt sich prägnant in dem sprachlich komplexesten Stück der Sammlung, "Meine Beichte - Bis eine Frau mit allen Wassern gewaschen ist". Es geht darin um die Übersetzung eines Sutras in mehreren Stufen vom klassischen Schriftchinesisch über die mündliche Rezitation bis ins moderne Japanisch. Das Thema ist die Reue, und für die Intensität der Gewissensbisse angesichts vieler Verfehlungen, für "ein Herz, das bereut", für "ein Herz, das in kleine Stücke geschnitten wird", wird schließlich der Ausdruck "herzhäckselnd" gefunden. In diesem Text gipfelt wohl auch die Eleganz der Übersetzerin Irmela Hijiya-Kirschnereit, der es gelingt, einen bereits in der japanischen Sprache diffizilen Übersetzungsvorgang für eine deutschsprachige Leserschaft nicht nur nachvollziehbar, sondern ergreifend zu machen.
"Herzhäckselnd" - Hiromi Ito schreibt in hohem Maße anrührend und aufwühlend, und es ist ihrem zupackenden Duktus, auch ihrem Humor zu verdanken, dass die Konfrontationen mit dem gemeinhin Verdrängten von einer überraschenden Leichtigkeit getragen sind. All ihre Texte laufen auf die Frage zu, was Poesie im Angesicht des Todes ausrichten kann. In dieser Sammlung von Herzstücken aus ihrem Schaffen werden Antworten gefunden. Es bleibt der Trost der Bäume, erst recht des "Dreifachbaums". Und es bleibt der Trost der Sprache, das Glück der Verständigung. MARION POSCHMANN
Hiromi Ito: "Garstiger Morgen". Texte von den Transitzonen des Lebens.
Aus dem Japanischen von Irmela Hijiya-Kirschnereit. Matthes & Seitz, Berlin 2025. 214 S., geb.
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