Besprechung vom 05.09.2025
Per Flixbus in die Binse
Ilma Rakusa enttäuscht mit Tagebuchprosa
Im Oktober zeichnet die Darmstädter Akademie Ilma Rakusa mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essayistik aus, im Januar darauf wird Rakusa achtzig Jahre alt und kann auf ein langes Leben nicht nur als Kritikerin und Essayistin, sondern ebenso auf eines als vielfach ausgezeichnete Dichterin und Übersetzerin zurückblicken. Marina Zwetajewa und Danilo Kis etwa wären im deutschen Sprachraum ohne ihr Zutun nicht annähernd so präsent. Ihr Erinnerungsbuch "Mehr Meer" hat der Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter, die seit 1951 in Zürich lebt, 2009 den Schweizer Buchpreis eingebracht.
In ihrem neuen, äußerst umfangreichen Buch "Wo bleibt das Licht", einem Tagebuch der Jahre 2022 bis 2024, ist von Zufriedenheit mit einem großen Lebenswerk allerdings nichts zu spüren. Zwar führt Rakusa weiterhin das rastlose Leben einer freien Autorin, fliegt für Lesungen, Diskussionen und Lobreden kreuz und quer durch Europa (oder nimmt auch mal den Flixbus), aber was sie überallhin begleitet, ist der Gedanke an den Krieg in der Ukraine. Für Rakusa, die sich ihr Leben lang für die russische Literatur eingesetzt und noch zu Sowjetzeiten in Leningrad studiert hat, ist die russische Vollinvasion nicht zuletzt eine persönliche Katastrophe.
Auch wenn die einzelnen Tagebucheinträge nicht datiert sind, kann man den Kriegsverlauf beim Lesen nachverfolgen: die erfolgreiche Gegenoffensive im ersten Kriegsjahr, der Schlamm und die Mäuseplage im ersten Kriegswinter, das abermalige Vorrücken der russischen Armee. Im Oktober 2023 kommen dann als zweite weltpolitische Erschütterung die Attacke der Hamas auf Israel und der Krieg in Gaza hinzu. Neben den Reisen, der Betrachtung des heimischen Gartens und Ausflügen nach Berlin, wo Rakusa eine Zweitwohnung unterhält, Traummitschriften und kleinen eingestreuten Gedichten bilden die beiden Kriege den Hauptgegenstand.
Leider hat Rakusa nicht, wie es bei dieser Essayistin zu erwarten wäre, aus analytischer Distanz geschrieben, sondern im Gestus unmittelbarer Betroffenheit: "Wo bleibt das Kriegsverbrechertribunal. Vater unser", heißt es da etwa oder, ebenso pathetisch wie wolkig: "Möge die Gewalt an sich selber ersticken." Fährt der Schneepflug vorbei im beschaulichen Zürich, denkt die Autorin an Panzer.
Lichte Momente gibt es für Rakusa vor allem, wenn die Enkelkinder zu Besuch sind, dann herrscht "Omaglück", aber gleich fallen ihr wieder die Bilder aus Gaza ein: "Von verängstigten, verwundeten, toten Kindern. Weit weg, und doch so nah. Der Kopf vermag es nicht zu fassen, das Herz." Abgesehen davon, dass Soldaten verwundet, Kinder aber verletzt werden, sind solche Sätze bedrohlich nahe am Schwulst. Wie überhaupt vieles in "Wo bleibt das Licht" phrasenhaft wirkt, wie schlechtes Nachrichtendeutsch: "Die Ukraine kommt nur in kleinen, wohlbedachten Schritten voran", "Russland lässt nicht locker" oder: "Vorgestern ist in Belgrad David Albahari gestorben. Der literarische Balkan blutet aus."
Immer wieder kommt Rakusa auf von ihr verehrte Autoren zu sprechen, aber auch hier ist von kritischer Distanz und dem Versuch, aus ungewohnter Perspektive auf literarische Werke zu schauen, nichts zu spüren. Stattdessen Wikipedia-Wissen und, als sei das Tagebuch von vornherein auf uninformierte Leser hin geschrieben, Lebensdaten. Ihre Verehrung für Friederike Mayröcker erschöpft sich im Satz, deren Bücher lägen immer in Griffnähe, denn schon der Weg zum Regal sei zu weit. In Gaza sterben die Kinder, in Westeuropa aber droht Lyriklesern schon beim Gang zum Bücherregal der Exitus?
Über Caspar David Friedrich erfahren wir, dass sein Blick, kaum zu glauben, vor allem auf weite Himmels- und Meereslandschaften fällt, während William Turner, "ein Zeitgenosse Friedrichs", die Elemente verwirbele und die Konturen auflöse. Solche Binsen sind womöglich für die Enkel interessant, auch als privates Tagebuch hat das seine Berechtigung. Aber angesichts der vielen bedeutenden Tagebücher deutschsprachiger Provenienz, von Franz Kafka über Anne Frank bis Max Frisch, sollte man vorsichtig sein, was man zwischen zwei Buchdeckel packt. TOBIAS LEHMKUHL
Ilma Rakusa: "Wo bleibt das Licht".
Tagebuchprosa.
Literaturverlag Droschl, Graz 2025. 560 S., geb.
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