GELESEN: Inge Kloepfer Die Zweifel des Homer Spiegelman
Erschienen 28.02.2023
Bei Osburg Verlag
426 Seiten
(Sonderhöhe 39mm), 762g
Inge Kloepfer hat mit ihrem ersten Roman einen Treffer gelandet. Eine Familiengeschichte über drei oder mehr Generationen wurde zwar schon oft geschrieben. Hier findet der Leser aber Alleinstellungsmerkmale. Juristische Schachzüge, Bewegungen der Börse und die Welt der Hochfinanz, versteht sie verständlich mit aufrecht gehaltener Spannung auch dem Laien nahezubringen. Den Titel dieses Romans hätte man besser nicht wählen können, denn der Protagonist ist nicht nur von Zweifeln geplagt, sondern ebenso von Traurigkeit, Angst, Wut und gefährlichen Fantasien. Die Zustände, die er durchlebt, sind grenzwertig und gleichen einem Drahtseilakt. Es vergehen Jahre, bis sein Leben langsam in ruhigeres Fahrwasser gerät und man wieder Hoffnung für ihn hat.
Wir lernen mit der Figur des Homer Spiegelman einen Menschen kennen, der durch den frühen Tod seiner Mutter Elaine in ein Leben katapultiert wurde, welches er ohne dieses Ereignis sicher so nicht geführt hätte. Seine anfängliche Angst galt nicht nur allein der Tatsache, nun ohne Mutter weiterleben zu müssen, sondern dem traurigen Vater, dessen heimliche Tränen ihm nicht verborgen blieben. Er kämpfte mit Selbstvorwürfen, die er sich machte, weil er am Fenster stand. Hätte er sich in einem anderen Teil des Hauses aufgehalten, so hätte seine Mutter sich nicht nach ihm umgedreht und das herannahende Fahrzeug rechtzeitig bemerkt. So trägt er nicht nur an ihrem Tod, sondern auch an der unendlichen Einsamkeit seines Vaters Hank Schuld. Damit will er ganz alleine fertig werden. Er braucht keinen Zuspruch und keine Hilfe, schon gar nicht von Josi, der Nachbarin. Sie war die beste Freundin seiner Mutter und wie sie Krankenschwester. Jetzt kümmert sie sich um Homer und noch mehr um Hank. Als Sandy geboren wird, hat Homer eine Schwester und eine neue Familie, die er gar nicht will. Die alte Dreisamkeit vor dem Unfall wünscht er sich an jedem einzelnen Tag zurück.
Bevor Homer sein Examen macht, tritt er eine Europareise an. Er trägt kleine Zettelchen bei sich, die er von Freunden bekam, die wiederum Freunde überall auf dem Kontinent kennen. So ruft er aus Holland in München bei einer ihm bislang unbekannten jungen Frau an, die er zwei Tage später in Schwabing aufsucht. Schon am ersten Abend beginnt der damals 24 Jahre alte Jurastudent zu erzählen.
Sie ist es, deren Namen wir nicht kennen und die er noch weitere Male in seinem Leben trifft. Sie hört ihm zu. Ihr gegenüber kann er sich so geben, wie er wirklich ist. Viel später erfahren wir den Grund dieser Reise, auf der er als Kurier unterwegs war. In seinen Koffern waren nicht nur Wäsche, sondern heiße Ware, die er im Auftrage seines Mentors, Thomas Thornton, überbrachte. Thornton war ein Kunde seines Vaters, den Homer schon in sehr jungen Jahren kennenlernte. Er war es auch, der Homer einen Lebensweg beschrieb, den er einschlagen sollte, um reich und unabhängig zu werden.
23 Jahre später erleben wir Homer während der Trauerfeier, welche eine Rabbinerin hält. Breathe breathe fordert sie die Trauergemeinde immer wieder auf. Homer, der in der dritten Reihe ganz außen rechts sitzt, leistet ihr Folge und atmet. Er atmet ganz tief solange, bis er sich erhebt und mit fünf weiteren Männern den Sarg seines Cousins Matthew zu Grabe trägt. Matthew war nicht nur sein Vetter, sondern auch lange sein Freund, aber in erster Linie sein Konkurrent. Viele Jahre war nicht er, sondern Matt, wie ihn alle nannten, der Star in der Familie. Ihm gelang einfach alles. Homer war lange nur die Nummer zwei. Matthew Shaffer wurde 47 Jahre alt. Homer ist einen Tag älter als er. Matthew hinterlässt seine Frau Kate, den 7 Jahre alten David und den 11 Jahre alten Leonard sowie seine Eltern und seine vier Jahre jüngere Schwester Madeleine.
Homer denkt an die Besuche bei seiner Großmutter Tana, die für den kleinen Buben ganz besonders schön waren. Dort traf sich die Großfamilie. Immer wieder bat er seine Großmutter, eine Jüdin aus Odessa, ihm, dem kleinen Buben, ihre Geschichte zu erzählen. Das Zerwürfnis mit ihren Eltern, weil sie keinen Juden heiraten wollte, die unendliche Liebe zu ihrem Mann, die Geburt ihrer vier Kinder, die Ausreise mit dem Schiff in die neue Welt und ihre spätere Selbständigkeit nach dem frühen Tod ihres Mannes. Tana war das Oberhaupt und wurde auch so behandelt. Ihr Wort hatte Gewicht.
Auch wenn Homer Spiegelman ein recht schwieriger Charakter ist, so mag man sein Leben gerne verfolgen und wartet voll Spannung auf das Ende der facettenreichen Geschichte, die sich zu lesen lohnt, und die mich stark berührte.