
Im brasilianischen Hinterland wächst Moisés ohne Mutter auf. Seine ältere Schwester Luzia, der man übernatürliche Kräfte nachsagt, erzieht ihn mit großer Strenge. Sie arbeitet als Wäscherin in einem Kloster, das seit Jahrhunderten die Gegend dominiert. Als sie für Moisés einen Platz in der Klosterschule erobern kann, glaubt sie an eine bessere Zukunft für ihren Bruder. Doch Moisés sieht sich Willkür und Missbrauch ausgesetzt, über die er mit niemandem sprechen kann. Er verlässt heimlich das Dorf und kehrt erst Jahre später zurück, nachdem das Kloster durch ein Feuer zerstört wurde.
In seinem großen, kraftvollen Roman »Feuer« zeichnet Itamar Vieira Junior ein vielschichtiges Bild der ländlichen Gesellschaft Brasiliens und einer Familie, die sich gegen Unterdrückung und jahrzehntelanges Leid stemmt, um die Schatten der Vergangenheit zu überwinden.
Ausgezeichnet mit dem Prêmio Jabuti 2024
Besprechung vom 11.11.2025
Eine Welt vor dem Zerbrechen bewahren
Eine Wassergeburt und der wilde Strom der Erinnerung in Itamar Vieira Juniors Roman "Feuer"
Mit seinem in zahlreiche Sprachen übersetzten und wichtigen brasilianischen Literaturpreisen ausgezeichneten Roman "Die Stimme meiner Schwester" (2019; deutsch 2022) war Itamar Vieira Junior ein immenser Erfolg gelungen, der sowohl auf der literarischen Qualität als auf der thematischen Neuerung, der Sichtbarmachung des Schicksals der Nachkommen von Sklaven im ländlichen Nordosten Brasiliens, zumal anhand von starken Frauenfiguren, beruhte. Die authentische Atmosphäre rührte nicht zuletzt daher, dass der Autor viele Jahre als Geograph für das nationale Institut für Landreform tätig war.
Zugleich schrieb er sich damit nicht nur in die neuere afrobrasilianische Thematik der Literatur seines Landes ein - darunter der Bestseller von 2006, "Um defeito de cor" (Ein Farbfehler), von Ana Maria Gonçalves -, sondern auch in eine gewichtige Traditionslinie des brasilianischen Romans, der sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bereits eindringlich der sozialen Problematik des von Dürre geplagten Nordostens widmete. Der nun auf Deutsch vorliegende Roman "Feuer" ist der zweite Band einer "Trilogie der Erde", dessen letzter Band in Kürze in Brasilien erscheinen wird.
Die Publikation von "Feuer" hat in Brasilien zu einer symptomatischen Auseinandersetzung geführt. In der angesehenen Literaturzeitschrift "451" veröffentlichte die Literaturwissenschaftlerin Lígia G. Diniz eine ausführliche, differenzierte Kritik, die dem Roman eine "manichäische Weltsicht" vorhielt, bei der "soziales Unglück zu einem Synonym für Tugend" werde. Itamar Vieira Junior warf der Rezensentin daraufhin Rassismus vor, was wiederum den angolanischen Schriftsteller José Eduardo Agualusa seinem brasilianischen Kollegen raten ließ, solche literarischen Einwände müsse er aushalten.
Zweifelsohne versucht "Feuer" die Erfolgsformel des Vorgängerromans zu wiederholen: Auch hier geht es wieder um ungerechte Besitzverhältnisse (diesmal der katholischen Kirche), ökonomische Ausbeutung und sexuelle Gewalt gegenüber den Nachfahren der afrobrasilianischen und indigenen Bevölkerung, in einer scheinbar der Zeit (der Moderne) enthobenen Welt.
Diesmal spielt die Handlung am Rande des Paraguaçu, des größten Flusses im Bundesstaat Bahia. Im Zentrum steht Luzia, die nach einer Vergewaltigung ein Kind mitten im Fluss gebiert, wobei sie lange ihre Mutterschaft verschweigt - der Sohn, Moisés, wird ihrer eigenen Mutter zugesprochen, und Luzia selbst übernimmt die Erziehung als seine "Schwester". Moisés wächst mit Schuldgefühlen auf, da er glaubt, dass er durch seine Geburt für den frühen Tod der "Mutter" und für den unverheirateten Stand von Luzia verantwortlich ist. Luzia arbeitet zeitweise als Wäscherin eines Klosters, bis sie merkt, dass ein Priester Missbrauch an Moisés verübte. Nahezu alle der zahlreichen Geschwister verlassen das Land für die Stadt - erst nach dem Tod des Vaters kommt es zu einer bewegenden Szene der Wiedervereinigung. Während sich die von der Dorfbevölkerung wegen eines kleinen Buckels gehänselte und gelegentlich als "Hexe" bezeichnete Luzia ebenfalls aus den beengten dörflichen Verhältnissen wegwünscht, zeigt sie sich gegen Schluss mit ihrem Umfeld versöhnt und kämpft zäh für das Besitzrecht des von ihrem Vater bearbeiteten Landes.
Durchaus geschickt verteilt der Roman seine um Familiengeheimnisse und Selbstermächtigung kreisende Geschichte auf verschiedene personale und auktoriale Erzählperspektiven, auf die von Moisés, Luzia und ihrer Schwester Maria Cabocla, um so dieselben Ereignisse jeweils unterschiedlich zu spiegeln. Problematisch daran ist jedoch, dass die Erzählung stets - und oft mit ermüdenden Wiederholungen - ausbuchstabiert, was die Figuren nicht im Moment des Erlebens, sondern im Nachhinein denken. Als Luzia Moisés seinen Bericht über den Missbrauch nicht glauben will und wegen dieser "Lüge" schlägt, sinniert sie: "Wie sollte ich unsere Welt voller Unzulänglichkeiten schützen, damit sie nicht endgültig in Stücke zerbrach?"
Nicht nur Luzia spricht vom "Bösen", auch der Erzähler greift immer wieder zu Kommentaren, die dem Leser jederzeit signalisieren, was er zu denken hat. Forciert und stilistisch fragwürdig wirken auch jene Passagen, in denen der Roman seine Figuren vor dem Hintergrund einer vieles über einen Kamm scherenden mythisch-historischen Folie verstanden wissen will, indem er explizit nahelegt, dass eine Kontinuität zur indigenen und kolonialen Vergangenheit bestehe. So weckt Moisés' späte Rache am Priester Dom Tomás die Erinnerung (des Erzählers) an das Volk der Tupinambá, was aufgrund von "Träumen" und "Offenbarungen" auch seine Mutter mehr oder weniger unbewusst realisiert: "Luzia weiß es nicht, aber sie kann es spüren. Ein wilder Strom aus alten Erinnerungen an eine harte, unergründliche Zeit fließt in ihren Adern. Die Geschichte ihrer Vorfahren weckt ihr wildes Sein. Sie versetzt sie nicht in die Vergangenheit, sondern bringt das Wertvolle aus dieser Zeit in die Gegenwart."
Dieses Empfinden von Luzia im Angesicht des im Zuge einer Rebellion abgebrannten Klosters, womit der "Zeit des Terrors" ein Ende gesetzt wurde, legt abermals eine Verbindung nahe zwischen den Aufständen der Kolonialzeit und der Notwendigkeit des Widerstands in der Gegenwart. Verstärkt wird dies durch die Symbolik des Feuers, das symbolhaft mit Luzia und dem Schicksal ihrer Familie verbunden ist. Itamar Vieira Junior dienen diese Stilmittel dem Aufzeigen einer strukturellen Kontinuität von Gewalt und Ungerechtigkeiten, die in einem nachkolonialen Land wie Brasilien in der Tat noch lange nachwirken. Sein besonderer Fokus auf die Körper und Erfahrungsräume von Frauen ist fraglos verdienstvoll, aber als Roman fügt "Feuer" seinem Vorgänger wenig hinzu und bleibt an literarischer Kraft deutlich hinter ihm zurück. JOBST WELGE
Itamar Vieira Junior: "Feuer". Roman.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Barbara Mesquita. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025. 384 S., geb.
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