Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde das liberal-demokratische Modell westlicher Prägung alternativlos. Heute zerbrechen weltweit Demokratien vor unseren Augen, zersetzt von Populismus, Nationalismus und der Abkehr von freiheitlichen Werten - gerade auch in Osteuropa. Warum hat der Westen seine Strahlkraft verloren? In ihrer brillanten Analyse zeigen Ivan Krastev und Stephen Holmes, dass das seinerzeit ausgerufene »Ende der Geschichte« in Wahrheit ein Zeitalter der Nachahmung einläutete. Drei Jahrzehnte lang sah sich der Osten gezwungen, den Westen zu imitieren, und versank in Gefühlen der Unzulänglichkeit, Abhängigkeit und des Identitätsverlusts. Inzwischen hat das Vorbild seine moralische Glaubwürdigkeit verloren - und ein gefährliches Wertevakuum geschaffen.
»Ein bahnbrechendes Werk über die Politik seit dem Ende des Kalten Kriegs, das uns zwingt, bisherige Überzeugungen infrage zu stellen und die komplexe Dialektik aus Liberalismus und Antiliberalismus neu zu bewerten. « George Soros
»Es ist ein Buch, das einen dazu verführt, fast auf jeder Seite etwas zu unterstreichen und sich Anmerkungen zu machen. Mit dem Nachahmungsparadigma haben die Autoren ein anregendes Instrumentarium gefunden, um die massenpsychologischen Prozesse unserer Gegenwart offenzulegen. Die Fülle an überraschenden Einsichten und Beobachtungen ist beträchtlich, der detaillierte Blick auf Mentalitätsverschiebungen nicht durch die immer gleichen antifaschistischen Großbegriffe und Ismen verstellt. « Die Zeit, Adam Soboczynski
»Ivan Krastev ist einer dieser Philosophen, die auch Geschichtenerzähler sind; seine Pointen, Witze, Anekdoten sind Wegweiser, während er von einem Gedanken zum nächsten wandert. . . Zusammen mit dem New Yorker Rechtsphilosophen Stephen Holmes hat er gerade ein Buch veröffentlicht mit dem Titel »Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung«. Und was für eine. « Der Spiegel, Lothar Gorris
»Ivan Krastev ist einer der großen europäischen Denker unserer Zeit. « Timothy Snyder
»Krastev zu lesen ist ein Genuss, denn in seiner stilistischen Kunst finden die Liebe zur Literatur, die politische Illusionslosigkeit und die Schönheit des Gedankens zusammen. « Die Zeit, Elisabeth von Thadden
»Stephen Holmes ist einer der brillantesten politischen Philosophen Amerikas. « Tzvetan Todorov
Besprechung vom 17.11.2019
Der Sieg, der keiner war
Wie der liberale Westen zum Opfer seines Triumphs wurde: Ivan Krastev und Stephen Holmes deuten die Ära seit 1989 als eine Zeit, in der die besten Absichten die schlimmsten Folgen hervorbrachten
Mitten in die Jubiläumsfeiern zu dreißig Jahren Mauerfall und nachfolgende Umstürze platzt eine Irritation, die alle Begriffe, die wir uns von der Welt seither gemacht haben, durcheinanderwirbelt. Dass die frühere Hegemonie und Geschlossenheit des Westens dahin ist, das hat sich schon herumgesprochen. Aber am Geschichtsschema, das diese Hegemonie hervorgebracht hat, wird in Westeuropa für gewöhnlich festgehalten: 1989 gilt nach wie vor als geradezu naturwüchsiges Ereignis, als Triumph der Natur - des dem Menschen zugehörigen Freiheitsverlangens - über die ihr bis dahin auferlegten künstlichen Beschränkungen und zugleich als Vollzug einer historischen Notwendigkeit, die vom dialektischen Materialismus auf den Liberalismus übergegangen war.
Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev und sein amerikanischer Kollege Stephen Holmes meinen nun aber, mit einem solchen Schema im Kopf könne man überhaupt nicht begreifen, was zurzeit in der Welt geschieht. Die neue Großtheorie, die sie in ihrem gerade erschienenen Buch "Das Licht, das erlosch" (Ullstein, 368 Seiten, 26 Euro) vorlegen, irritiert durch eine kleine, aber entscheidende Verschiebung des Blickwinkels. An die Stelle von Natur und Notwendigkeit, die der Geschichte einen Ursprung und ein Ziel geben, setzen sie eine Größe, die von allen politischen oder moralischen Urteilen erst einmal absieht: Nachahmung. Was mit dem Ende der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg eingesetzt habe, sei schlicht ein "Zeitalter der Nachahmung" gewesen, in dem der Osten den Westen zu kopieren versucht habe.
Mit diesem "Nachahmungsimperativ", der nach 1989 sowohl von den östlichen Gesellschaften selbst und vielen ihrer Dissidenten als auch von westlichen Institutionen ausgegangen sei, wollen Krastev und Holmes den jetzigen Backlash erklären, wollen aufzeigen, "wie der Liberalismus zum Opfer seines im Kalten Krieg vorausgesagten Erfolges wurde": Die in ihm steckende Hierarchisierung und Demütigung habe die unvorhergesehene Langzeitwirkung eines Grolls gegen die Nachgeahmten gezeitigt, noch verschärft durch die behauptete Alternativlosigkeit, eine moralinsaure Überwachung und den bisweilen ausbleibenden Erfolg der anempfohlenen und zunächst enthusiastisch begrüßten Verwestlichung. Die Umstürze vor dreißig Jahren stellten laut Krastev und Holmes das seltene Beispiel von Revolutionen dar, die ausdrücklich nichts Neues anstrebten, sondern das Alte, wie es andernorts schon verwirklicht war. Sie nannten dies das "normale Leben" und meinten damit den Westen. Jetzt stilisieren sich autoritäre Politiker wie Orbán in Ungarn und Kaczynski in Polen zu Widerstandsführern gegen die behauptete Bevormundung durch den liberalen Westen, gegen die Entfremdung von der eigenen nationalen und kulturellen Identität.
Diese Nähe der Begriffe, die die schon jetzt viel Aufsehen erregende neue Rahmenerzählung verwendet, zu den Parolen der osteuropäischen Rechten verunsichert: Dass die östlichen Staaten den Westen kopiert und damit sich selbst verraten hätten, ist doch genau die Sprache der dortigen Populisten. Darin steckt noch eine grundsätzlichere Frage: Führt nicht schon die normative Enthaltung der Theorie in die Irre? Das Nachahmungsparadigma stellt nationale und kulturelle Kollektive in den Mittelpunkt und nicht das einzelne Individuum, dem dagegen das liberale System die Möglichkeit geben will, sich zu entwickeln, wie es will, auch gegen das Korsett einer kollektiven Identität. Ist mit der vermeintlich distanziert-abstrakten Betrachtung also womöglich eine antiliberale Vorentscheidung verbunden?
Einem ähnlichen Unbehagen hatte schon im April die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann Ausdruck gegeben, als sie im "Merkur" auf einen Essay reagierte, in dem Krastev und Holmes die jetzt weiter entfaltete These erprobt hatten. Die Autoren spielten den doktrinären Gehalt der Populisten herunter, schrieb sie, und ansonsten gefielen sie sich in der Melancholie ihrer abgehobenen Vogelperspektive: "Sie sind Fatalisten ihrer eigenen Geschichtskonstruktion." Statt ein weiteres Mal den Popanz "des Westens" aufzubauen und entsprechende Ressentiments gegen ihn zu bedienen, wäre es besser, mit einem konstruktiveren Narrativ, in dessen Mittelpunkt die Menschenrechte stehen, die Welt aus ihren derzeitigen Krisen herauszuführen.
In der Kritik an genau dieser Art strategisch eingesetzter Narrative könnte man nun allerdings die etwas versteckte Pointe des ganzen Buchs sehen. Was die Autoren dem liberalen Westen als Fehler ankreiden, ist nicht der Liberalismus selbst. Ganz am Ende bezeichnen sie diesen ausdrücklich als "die politische Idee, die dem 21. Jahrhundert am ehesten entspricht". Und immer wieder betonen sie, dass die Nachahmung den östlichen Staaten keineswegs einseitig oktroyiert worden sei, sondern durchaus auch der Eigendynamik dieser Gesellschaften entsprochen habe. Wenn man aus der unterkühlten Beschreibung von Aktionen und Reaktionen eine Lehre herausdestillieren will, dann könnte der Fehler in etwas anderem gelegen haben: dass nämlich die liberalen Präzeptoren ihre eigenen besten Absichten mit dem Gang der Geschichte selbst verwechselten, ohne all die sonst noch wirksamen kulturellen und politischen Umstände ringsum zur Kenntnis zu nehmen. Die Autoren meinen, dass ein solcher Kategorienfehler in seiner reinsten Form in Deutschland auftrete, das als die perfekte Kopie noch besser als das amerikanische Original als Vorbild für andere zu taugen schien. Das Land habe sich aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit zu einem besonders markanten postnationalen Universalismus geläutert, doch es verkenne im Umgang mit anderen Ländern, dass diese eine andere Erfahrung mit der eigenen Nation gemacht haben. In weiten Teilen Osteuropas etwa stehe die Nation für die Selbstbehauptung gegenüber Hitler und Stalin, während eine universalistische Rhetorik bisweilen Erinnerungen an die sowjetische Propaganda hervorrufe.
Hinzu kommt, dass ein Teil des Eifers, mit dem Deutschland nach 1989 auf die Beseitigung der Eliten des unterlegenen Systems drang, sich als Kompensation jener kollektiven Erinnerung verstehen lasse, dass es sich bei seiner zunächst zaghaften Entnazifizierung in den fünfziger und sechziger Jahren selber ganz anders verhalten hatte. Und während die West-Alliierten nach 1945 auf die Etablierung starker Gewerkschaften in Deutschland gedrungen hatten, habe das Deutschland nach 1989 in Osteuropa nicht getan; man habe offenbar nicht gemeint, sich noch um die Systemloyalität der Arbeiter scheren zu müssen. All solche Motive spielten dabei mit, wenn vielen Osteuropäern heute der ihnen nahegelegte postnationale Verfassungspatriotismus als eine "neue deutsche Ideologie" erscheine.
In einem derartigen Licht können sich pädagogische Narrative und Sprachregelungen als weniger unschuldig erweisen, als sie für gewöhnlich empfunden werden; sie können, ganz gegen die eigene Absicht, als Ausdruck eines Hegemonie- und Machtstrebens aufgenommen werden und entsprechende Gegenreaktionen hervorrufen. Die Kritik betrifft also nicht das Eintreten für Menschenrechte und Universalismus selbst, sondern deren Herauslösung aus den jeweiligen historisch gewachsenen kulturellen und geopolitischen Kontexten, in denen sie überhaupt erst wirksam werden können.
Eben solche Kontexte liefert "Das Licht, das erlosch" in Fülle und leistet damit für westliche Liberale den unschätzbaren Dienst einer Außenperspektive, ohne die ihre Mühen kontraproduktiv zu bleiben drohen. Dass das Buch von jenen sozialpsychologischen Verhältnissen ausgeht, die die Autokraten so mächtig gemacht haben, stellt sich als notwendige Erweiterung des westlichen Mainstream-Horizonts heraus. Doch die Untersuchung bleibt dabei nicht stehen, sondern entwickelt daraus eine quasi außermoralische Physik der Kräfte, die geopolitisch aufeinander einwirken.
Eine Rolle spielen dabei auch die Migrationswellen, allerdings nicht die von Flüchtlingen, gegen die Orbán und Kaczynski Europa schützen zu wollen vorgeben. Das sei nur eine paradox verquere Reaktion auf das reale Problem der Massenabwanderung nach 1989, die ganze Landstriche zum Beispiel ohne Ärzte und Krankenschwestern zurückgelassen hat. Kaum etwas markiere die Ambivalenz im Rückblick auf den Systemumbruch deutlicher als die Einstellung gegenüber offenen Grenzen: Sie gelten in Osteuropa heute als die beste und zugleich schlimmste Folge von 1989.
Auch den Rest der Welt bringen Krastev und Holmes in ihrem Parallelogramm der Kräfte unter: Russland habe zunächst, um Zeit zu gewinnen, so getan, als würde es den Westen kopieren, als baute es eine Demokratie auf; seit Ende der nuller Jahre sei es dann zu der Strategie übergegangen, mit immer skrupelloseren Aktionen Amerika einen Spiegel von dessen eigener Machtpolitik vorhalten zu wollen. Amerika selbst stelle sich unter Trump als Opfer seiner es angeblich ausbeutenden Nachahmer dar, weshalb es sich von seinem bisherigen Exzeptionalismus verabschieden und nur noch so interessengeleitet wie alle anderen agieren wolle. Und China habe von Anfang an nur die Mittel, nicht die Ziele des Westens kopiert und zeige keinerlei Ehrgeiz, selber kopiert zu werden. Mit seinem Aufstieg sei das Zeitalter der Nachahmung endgültig zu Ende gegangen, das bis zuletzt "die Faszination der Aufklärung für unser gemeinsames Menschsein" bewahrt habe. Die Autoren zeichnen den Zynismus der jetzt begonnenen Ära schonungslos, doch sie gewinnen dem Verlust der liberalen Vorherrschaft am Ende auch eine Hoffnung ab: Ein "geläuterter Liberalismus", der sich "von seinem unrealistischen und selbstzerstörerischen Streben nach weltumspannender Hegemonie erholt", könne seine Notwendigkeit von neuem unter Beweis stellen. Es ist die letzte Paradoxie in einem Buch voller verstörender und erhellender Paradoxa. Bleibt zu hoffen, dass speziell diese nicht trügt.
MARK SIEMONS
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