Ich muss zugeben, dass ich kein Jennifer-Rostock-Fan bin bzw. mich bisher einfach zu wenig mit der Musik befasst habe und sie deshalb eigentlich gar nicht kenne. Jennifer Weist, die mittlerweile solo als Yaennifer unterwegs ist, ist mir aber natürlich trotzdem ein Begriff. Ich wusste, dass sie mit ihrer Offenheit, ihren eindeutigen antirassistischen und feministischen Positionen und auch mit ihrer Musik polarisiert - und genau deshalb wollte ich ihre frisch erschienene Autobiografie "Nackt" auch unbedingt lesen.Denn wer, wenn nicht eine junge Frau, kann einen ungeschönten, kritischen Einblick in die deutsche Musikbranche geben? Genau das macht Jennifer Weist - sie berichtet von Macho-Gehabe, misogynen Vorurteilen und (traurigerweise muss man sagen: wie könnte es anders sein?) Machtmissbrauch und se*ueller Belästigung in einer bis heute überwiegend männlichen Branche, in der frau ordentlich die Ellbogen ausfahren muss, um sich zu behaupten.Sie berichtet aber auch von ihrem großen Traum, Musikerin zu werden, und von der Erfolgsgeschichte ihrer Band Jennifer Rostock - die aber natürlich auch ihre Schattenseiten hatte. Stichwort Drogen- und Alkoholkonsum, toxisches Verhalten und Bedrohungen und Mobbing im Internet und auf der Bühne. "Nackt" ist ein ungeschöntes, provokant ehrliches und dabei auch sehr persönliches Porträt einer Musikkarriere, die Höhenflüge, Niederlagen und das klassische Bild von Se*, Drugs & Rock'n'Roll in sich vereint.Jennifer Weist berichtet in "Nackt" aber nicht nur von ihrer Karriere als Sängerin, sondern auch von traumatischen Erlebnissen in ihrer Kindheit und ihrem Struggle, als junge Erwachsene ihre (se*uelle) Identität zu finden. Was ich dabei großartig finde: Jennifer Weist ist wahnsinnig selbstreflektiert, hinterfragt ihr Verhalten als Anfang-20-Jährige, ihren bisweilen problematischen Umgang mit Partnern und frühere Positionen. Und sie ist dabei wunderbar ehrlich - sowohl was ihr eigenes Verhalten (etwa auch in Bezug auf Drogen- und Alkoholkonsum) als auch was ihre se*uellen Vorlieben und ihre Meinung zu vermeintlich klassischen Beziehungskonzepten angeht.Obwohl Jennifer Weist noch nicht einmal 40 ist, hat sie in ihrem Leben bereits unheimlich viel erlebt - und vor allem hat sie viel erlebt, über das es sich zu reden lohnt. Und deshalb bin ich sehr froh, dass sie das in "Nackt" nun getan hat. Nach dem Lesen kann ich sagen, dass frau nicht Jennifer-Rostock-Fan sein muss, um viel aus Weists Autobiografie mitzunehmen. Was sie erzählt, ist bisweilen schockierend, macht manchmal wütend - aber vieles ist auch wahnsinnig empowernd. Deshalb meine unbedingte Empfehlung: Lesen, lesen, lesen!