Besprechung vom 30.06.2022
Morgens allein in den Straßen Berlins
Diese Bilder wollen mehr sein als bloße Dokumentation, nämlich erzählende und essayistische Fotografie. Was bei diesem Anspruch zunächst verblüfft: Sie sind vollkommen menschenleer. Das Drama, das man durchaus erwartet, müssen wir den Schauplätzen ablesen, den Stein und Asphalt gewordenen Spuren menschlicher Aktivitäten. Leere Städte als Zeugnisse der Geschichte(n) gab es in der Fotografie immer wieder, man denke nur an Atgets Paris, dennoch sticht Günter Steffens "Die Hauptstadt" aus dieser Tradition hervor. Denn er schildert nicht nur einen Status quo, sondern die Historie eines fortschreitenden Verfalls. Die dreiundfünfzig mit einer Kleinbildkamera angefertigten, grobkörnigen Schwarzweiß-Aufnahmen entstanden in den Jahren 1984 bis 1989, also in der Endzeit der DDR. Sie zeigen vor allem Ost-Berlin Mitte und Prenzlauer Berg und mit Vorliebe Straßen, Plätze und Hinterhöfe. Sie wirken im Nachhinein wie der augenfällige Beweis, dass es so unmöglich weitergehen konnte. Das hat auch mit mehreren Entscheidungen des Fotografen zu tun. Dass er im Morgengrauen arbeitet, wenn noch niemand unterwegs ist, verdankt sich seiner Grundidee; dass aber das Terrain feucht, oft von schmutzigen Schneeresten gesäumt und der Himmel dräuend dunkel ist, das verrät einen kompositorischen Willen. Dieses Ost-Berlin wirkt für immer verlassen, der Putz blättert von den Wänden, Mülltonnen stehen herum, als seien sie lange nicht mehr geleert worden, die engen Hinterhöfe scheinen schon beim distanzierten Anblick einen schwer erträglichen Geruch zu verbreiten. Steffens Fotos, für die es damals keinen Auftraggeber und keine Chance auf Publikation gab, wirken wie ein politisches Statement, wie Belegstücke in einem historischen Prozess. Dazu passt, dass sie mit Auszügen aus Jewgenij Samjatins Dystopie "Wir" durchsprenkelt sind, die wie hellsichtige Kommentare zu dem wirken, was wir zu sehen bekommen. Und doch bezaubern Steffens Bilder, die jetzt nach mehr als drei Jahrzehnten als Serie veröffentlicht werden, durch ihre abgründige Schönheit und eine düstere Poesie. lem
"Die Hauptstadt" von Günter Steffen.
Mit Texten von Jewgenij Samjatin und einem Nachwort von Günter Jeschonnek. Deutsch/Englisch/Russisch. Hartmann Books, Stuttgart 2021. 160 Seiten, 53 Abbildungen.
Gebunden
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