Besprechung vom 23.05.2022
Vom Klumpen durch das Knäuel zur Klarheit
Das klug bebilderte Buch "Mathematik. Die Geschichte der Ideen und Entdeckungen" stellt die richtigen Fragen
Mehrere Jahrhunderte lang lobten gescheite Leute im Westen ihre geistigen Ahnen im alten Indien für die Erfindung der Null: Wie soll man auch sonst wissen, was man hat (im Positiven) oder was fehlt (im Negativen), wenn's keine Grenze zwischen beiden gibt, und sei sie auch nur "nichts", was es ja eigentlich gar nicht gibt? Das Lob war allerdings voreilig, wie jetzt nicht nur Kinder aus dem Buch "Mathematik. Die Geschichte der Ideen und Entdeckungen" von Josif Rybakow, Marija Astrina und der Illustratorin Natalja Jaskina erfahren dürfen. Denn die Maya-Zivilisation arbeitete schon siebenhundert Jahre vor der klassischen indischen Mathematik mit etwas, das unserer "0" entspricht.
Diese Idee des "Arbeitens" ist der Schlüssel, mit dem das Buch sich die Welt- und Regionalgeschichte des exakten Denkens aneignet. Es fragt nie platt: "Was ist eine Zahl, was ist ein Dreieck?", weil es weiß, dass die Plattheit dieser Frage der Deckel auf einem tiefen Schacht ist, in den während der Philosophiegeschichte seit Pythagoras so manche Philosophie gestürzt und auf Nimmerwiedersehen im Obskuren verschwunden ist. Anstatt dieses Risiko einzugehen, bei dem nicht viel praktisch Verwertbares zu gewinnen ist, will das Buch lieber wissen und zeigen, was man mit Zahlen, Dreiecken und anderen mathematischen Gegenständen denken und machen kann.
Bilder gibt's auch: Frau Jaskina erzeugt deren Konturen von den Farben her, ein sehr mathematikaffines Verfahren. Die Bilder zeigen vorwiegend Menschen, sehr viele sieht man schon innen im Umschlag, wenn man den Band aufschlägt: Berühmte Köpfe, zwischen denen bunte Fäden ein Gespinst bilden, das von den Namen zentraler Sachthemen wie "Algebra" oder "Geometrie" her als Netz des historischen Verstehens aufgespannt ist. Diophantos, Leibniz, Al-Chwarizmi: Aus der Ferne wirkt es wie ein Klumpen, kommt man aber näher, wird es ein Knäuel, und entwirrt man es im Laufe der Lektüre, so entsteht Klarheit.
Verweise sind dem sehr dienlich - wenn etwa auf Seite 7 steht, wie die Menschen zählen lernen, dann winkt am selben Ort schon die Seite 145 mit Cantors Mengenlehre. So didaktisch dieses Vorwärts- und Rückwärtsspiegeln der Ideen wirken mag, es steckt darin vor allem ein gesunder, geschichtsbewusster Realismus: Mathematische Wahrheitssuche ist ein manchmal in Sprüngen vollzogenes, störanfälliges und debattenbedürftiges soziales Unternehmen, wie das Buch an einem großen Strauß bedeutsamer Beispiele belegt, etwa bei der Entstehung der modernen Grundlagendiskussion auf einem Kongress im Jahr 1900, bei dem David Hilbert der Weltgemeinschaft der Fachleute seine berühmten dreiundzwanzig Hausaufgaben für eine Zukunft überreichte, die heute noch andauert.
Seitdem hat sich immer deutlicher gezeigt, dass Mathematik das beste Bild des Raums ist, in dem wir präzise denken. Der Fortschritt des Fachs hat diese Bildbeziehung zwar abstrakter, aber auch transparenter gemacht; nicht nur die Spezialisierung, auch die Übersicht wächst. Das kommt im Buch am Ende vielleicht zu kurz; statt Stars, die wie Andrew Wiles oder Grigori Perelman wichtige Einzelleistungen erbracht haben, hätte man vielleicht Leute wie Robert Langlands vorstellen sollen, die an besagter Übersicht wirken. Aber das sind fast Geschmacksfragen, bedenkt man, dass Jugendbücher übers Forschen stets mehr sind als Zusammenfassungen des Bekannten, nämlich Geburtsstätten des Neuen, das dem jungen Publikum eines Tages einfallen wird. DIETMAR DATH
Josif Rybakow, Marija Astrina: "Mathematik". Die Geschichte der Ideen und Entdeckungen. Illustriert von Natalja Jaskina.
Aus dem Russischen von Edmund Jacoby. Jacoby & Stuart, Berlin 2022. 160 S., geb., 20,- Euro. Ab 10 J.
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