Besprechung vom 22.09.2025
Erst ist er da, dann ist er weg
Wenn Opas Herz ins Stottern gerät: Judith Burger und Julie Völk zeigen in ihrem neuen Buch, wie sich in kleinen Dingen viel Trost finden lässt.
Erst muss alles schnell gehen. Dann schweigt Mama. Mit ihr und seinem Vater ist Hans auf dem Weg ins Dorf der Großeltern, aber etwas ist anders, das spürt der Junge an den Veränderungen in Tempo und Ton. Lange schon wollte Hans seine Großeltern mal wieder besuchen und wurde stets vertröstet. Jetzt sitzt seine Mutter still am Lenkrad "und zieht die Nase hoch".
Judith Burger macht nicht viele, sucht und findet aber sehr präzise Worte, um auf der ersten Seite ihres neuen Buches eine Atmosphäre zu erzeugen, der sich weder Hans noch der Leser entziehen kann. Etwas Unwägbares, Unbegreifliches liegt über dieser Reise, und es wird nicht besser dadurch, dass Hans' Vater den hastigen Aufbruch irgendwann mit den Worten begründet: "Weil Opas Herz gestottert hat." Denn dass ein Herz nicht stottern kann, weiß Hans. Dass es auch nicht stolpert, wie seine Großmutter ihm später erklären wird, ebenfalls. Aber was gemeint sein könnte, versteht er trotzdem, weil die seltsamen Wortfindungsversuche der Erwachsenen natürlich ebenso selbstentlarvend sind, wie es ihr plötzliches Verstummen ist, als Hans im Haus der Großeltern die Küche betritt, in der sich alle versammelt haben. Auch dass Oma nicht aufhört, in ihrem Kaffee zu rühren, und Mamas Jacke so anders riecht, bleibt dem Jungen nicht verborgen. "Er guckt Mamas Stiefel an und steckt seine Hand in Papas Schuhe, als ob Opa da irgendwo eine Nachricht hinterlassen hat."
Dieser Opa tritt in dem Buch "Opas Herz" zwar erst am Ende leibhaftig in Erscheinung, aber er steht doch von Anfang an im Zentrum des Geschehens. Die Krankheit, das Alter und den Tod kann Hans nicht benennen, aber die Umwälzungen, die sein vertrautes Leben bedrohen, muss er doch irgendwie zu fassen kriegen, und so tritt er immer wieder in ein inneres Zwiegespräch mit seinem Großvater, der eine Sprache zu sprechen pflegte, die in dem Jungen nachhallte. "Opa sagt nie so was wie ,Du bist ja schon wieder gewachsen!' Opa sagt: ,Erst bist du klein . . . dann bist du groß!' Und das stimmt!" Opa hat Hans nicht nur früh mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass Leben Veränderung bedeutet, sondern ihm auch ein Grundgefühl vermittelt, das dem Jungen erlaubt, die Veränderungen nicht als bedrohlich zu empfinden. Mit diesem Gefühl ausgestattet, gelingt Hans nach der Ankunft im Dorf das beachtliche Kunststück, die Zeit der Ungewissheit und des Wartens auf die Rückkehr des Großvaters mit der Suche von Beispielen für dessen Weltsicht zu verbringen.
Im Kleinen offenbart sich das Große - was für Erwachsene eine Binse ist, wird in dem Kinderbuch der 1972 geborenen Judith Burger zum roten Faden: das Bonbon, das Opa am liebsten mag und das so schön schmilzt im Mund - "erst ist es hart . . . und dann weich"; der Hund des Nachbarn, der sich laut bellend vor Hans aufbaut - "erst war es ein gefährlicher Hund . . . jetzt ist es ein lieber"; die Erwachsenen, die sich abends die alten Geschichten von Opa erzählen und dabei ihre kleinen Gläser immer wieder füllen und leeren - "erst waren alle traurig . . . jetzt sind sie ganz lustig". Die Welt, wie Hans sie sieht, denn aus seiner Perspektive ist das Buch geschrieben, ist ein Ort, an dem sich im Kleinen manches zum Guten verändert. Und dieser Blick birgt etwas Tröstliches, das es Hans erlaubt, furchtlos vor die Tür zu treten.
Auf einer Wiese findet er einen Bolzen, und er trifft Liv wieder, die er von früheren Besuchen kennt. Er tauscht den Bolzen gegen einen alten Türknauf, den Türknauf gegen einen Eislöffel und den Eislöffel gegen ein Schlüsselloch, ohne Tür, versteht sich. "Erst hat man einen Schatz . . . dann einen anderen . . . dann wieder einen anderen . . . und dann keinen mehr!" Hans und Liv treffen einen Jungen, der sich im Dorf noch nicht auskennt und zur Orientierung einen Ariadnefaden hinter sich herzieht, einen roten Bindfaden, den die Illustratorin Julie Völk gleichsam als optische Referenz an die in der Erzählung verhandelte Wertschätzung der kleinen Dinge ganz in den Vordergrund ihrer Zeichnung rückt. Wie stets bei der 1985 in Wien geborenen Illustratorin verleihen ihre Bleistift- und Tusche-Zeichnungen auch "Opas Herz" etwas Leichtes, eine Sanftheit, die sich der feinen Strichführung und der Detailgenauigkeit verdankt. Manche Illustrationen sind seitenfüllend. Andere zieren als Vignetten den oberen Rand der Seiten, wo sie, weit davon entfernt, rein gestalterische Elemente zu sein, einzelne Aspekte des Geschehens aufgreifen, unabhängig von deren Größe und Gewicht: Regenwolken und Regenwürmer, Gummistiefel und rote Schleifen - alle Details sind durch eine gestrichelte, sich durch das gesamte Buch ziehende Linie miteinander verbunden, ganz so, als müsste man nur dieser Linie folgen, um immer wieder auf etwas Neues zu stoßen.
Mit dieser deutenden, aber bedacht im Hintergrund sich haltenden Illustration setzt Julie Völk ins Bild, wofür Judith Burger eine behutsam gewählte, stets am Erfahrungshorizont des Kindes sich orientierende Sprache gefunden hat - nämlich für die mal leichter, mal härter zu verkraftende Einsicht, dass die Welt sich dreht. Sie geht nicht unter. LENA BOPP
Judith Burger, Julie Völk: "Opas Herz".
Gerstenberg, Hildesheim 2025. 48 S., geb., 16,- Euro. Ab 5 J.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.