In diesem Buch gibt Jürgen Habermas Auskunft - über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Lauf der Jahrzehnte erfuhr. Er erzählt vom Entstehungsprozess seines Werks, von wegweisenden Lektüren und prägenden kollegialen Begegnungen. So entsteht das Bild eines reichen Beziehungsgeflechts, das sich über große Teile der intellektuellen Landkarte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart erstreckt.
Im Rückblick auf zahlreiche Stationen seines Denkwegs spricht Habermas unter anderem über seine generationsspezifische Ausgangssituation, über Schlüsselerlebnisse mit seinen akademischen Lehrern, über zeitgeschichtliche Tendenzen und politische Überzeugungen sowie die eigenen wissenschaftlichen Arbeiten und deren Rezeption. An sein jüngstes Großwerk Auch eine Geschichte der Philosophie anschließend, werden außerdem zentrale Begriffe und argumentative Strategien aus dem Habermas-Kosmos aufgerufen und kritisch verhandelt. Und immer wieder wird deutlich, worum es diesem Philosophen im Grundsatz geht: um »die Begründung des Quäntchens Vernunftvertrauen und der Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft«.
Besprechung vom 01.09.2024
Ein Moment des Erschreckens
Jürgen Habermas bleibt bei seiner Kritik am Ukrainekrieg. Ist das Denken, für das er steht, durch die Zeitenwende hinfällig geworden? Ein großes Interview über sein Lebenswerk, das jetzt bei Suhrkamp erscheint, legt das Gegenteil nahe.
Von Mark Siemons
Ist es Altersstarrsinn? Ein störrisches Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen all dessen, was für alle anderen zwingend ist? In einem großen Interview zu seinem Lebenswerk, das kommende Woche im Suhrkamp Verlag erscheint, beharrt Jürgen Habermas auf seiner Kritik am westlichen Vorgehen im Ukrainekrieg. Er befindet, dass sich "das Bewusstsein der politischen Eliten im Westen von der Logik des Krieges mehr und mehr vereinnahmen" lasse, und warnt vor dem "Rückfall in eine bellizistische Mentalität", die nur noch auf militärische und nicht diplomatische Mittel setze.
Gegen diese Habermas'sche Position ist von Anfang an, seitdem er sie zwei Monate nach dem russischen Angriff zum ersten Mal formuliert hat, vorgebracht worden, was gegen Mahnungen zu Verhandlungen mit Russland generell eingewendet wird: dass sie verschleierten, wer der Aggressor ist, von dem letztlich der Frieden abhängt; dass Putin ja gar keine Bereitschaft zu Verhandlungen erkennen lasse und seine Angriffe noch verstärke; dass die Friedensforderungen zum jetzigen Zeitpunkt daher nur ihm nutzten und das Selbstbestimmungsrecht der überfallenen Ukraine sträflich missachteten.
Warum bringen diese Argumente Habermas von seiner Kritik nicht ab? Die Beharrlichkeit des Philosophen in dieser Sache kann kaum überbewertet werden. Sie ist ja nicht einfach eine Meinung wie jede andere, sondern ist - wie das jetzt erscheinende Interview der beiden Habermas-Biographen Stefan Müller-Doohm und Roman Yos eindrucksvoll dokumentiert - aufs Engste mit einem Theoriegebäude verknüpft, das für die alte Bundesrepublik und deren Perspektiven für die Zukunft stand. Die Frage nun ist: Ist dieser Denktypus angesichts des Ernstfalls eines Krieges, der direkten Bedrohung durch einen skrupellosen Aggressor, hinfällig geworden? Ist es ein Denken, das nur unter den windgeschützten Bedingungen der NATO-Vorherrschaft möglich war, unter denen man der Illusion erliegen konnte, normativer Vorreiter einer künftigen Weltinnenpolitik zu sein? Oder ist es ein Denken, dessen große Stunde im Gegenteil noch kommt, dessen universalistischer Kern nach dem Zerbröseln der westlichen Hegemonie erst recht seine Wirkung entfalten kann? Je nachdem, welche Antwort man gibt, verändert sich der Blick auf den Krieg und die Einordnung des gegenwärtigen Moments erheblich.
Habermas betont, dass er nicht die "rechtlich erlaubte und politisch gebotene" Unterstützung der Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung kritisiert. "Ich kritisiere die Kurzsichtigkeit eines konzeptionslosen Westens - das Fehlen jeder eigenen und rechtzeitigen Initiative angesichts der Barbarei eines Krieges, dessen festgefahrenes und perspektivloses Andauern der Westen mitverantwortet." Dieses Argument hat zwei Teile. Zum einen behauptet Habermas, dass der Westen durch seine Waffenlieferungen eine Mitverantwortung für den Fortgang und das Ende des Krieges hat; beides sei dadurch nicht mehr allein Sache der angegriffenen Ukraine. Und zum anderen wirft er dem Westen vor, diese Verantwortung zu verleugnen, indem er den Krieg seinem Selbstlauf überlasse und keine realistische eigene Vorstellung entwickle, was sein Ziel ist und wie er enden kann.
Diese Kritik entspricht auch einem der Kriterien, die die vor allem von Thomas von Aquin beeinflusste katholische Lehre für einen "gerechten Krieg" aufgeführt hatte. Schon im Mittelalter wurden die Nebenfolgen auch eines aus moralisch zweifelsfrei nachvollziehbaren Gründen (causa iusta) geführten Krieges als so gravierend eingeschätzt, dass weitere hohe Anforderungen gestellt wurden, um ihn zu rechtfertigen: Er müsse der letzte Ausweg sein (ultima ratio) und angemessen in der Wahl seiner Mittel (ius in bello: der durch den Krieg hervorgerufene Schaden darf den zu erwartenden Erfolg nicht deutlich überwiegen). Und außerdem müsse er eben auch ein realistisches Ziel haben, die realistische Aussicht auf einen den besiegten Feind einbeziehenden gerechten Frieden (iustus finis).
Tatsächlich ist es rätselhaft, weshalb auch die öffentliche Debatte nicht auf die Aufhellung dieses blinden Flecks dringt. Es werden überhaupt keine Ziele formuliert, auf was genau der Krieg realistischerweise hinauslaufen soll und nach welchen Kriterien ein Zustand erreicht sein kann, bei dem Verhandlungen als sinnvoll erscheinen. Es sieht so aus, als würde die eingangs genannte Kritik an Verhandlungsforderungen wie ein Abwehrmechanismus gegen jedes weitere Nachdenken funktionieren: Wenn nur festgestellt ist, dass Russland der Aggressor und eine echte Bedrohung auch für den Westen ist, gilt offenbar nur noch die Frage, wie viele Waffen man zur Unterstützung der Ukraine liefern soll, als moralisch legitim.
Wie haltlos eine solche Haltung ist, zeigte sich erst jetzt wieder bei einem Thema, von dem Habermas zum Zeitpunkt des Interviews noch gar nichts wissen konnte. Die am Rand eines NATO-Gipfels wie nebenbei verkündete Stationierung von amerikanischen Raketen, die von Deutschland aus russisches Territorium erreichen können, stieß in der Öffentlichkeit auf ein merkwürdiges, bei näherer Betrachtung skandalöses Desinteresse. Der knappe Verweis des Verteidigungsministers Pistorius auf eine "Fähigkeitslücke" der NATO und auf den "Ernst der Lage" schien ihr zu genügen, obwohl alle näheren Fragen zur Befehlsgewalt über die Raketen, zu ihrer strategischen Bedeutung und Gefahr, zum fehlenden Bündnisangebot von Rüstungskontrollverhandlungen und zu den Konsequenzen für die nationale Souveränität bis heute offen geblieben sind.
Die größte Wucht haben in dem über E-Mails geführten Gespräch mit Habermas einige ganz einfache Sätze, in denen er die Motive seines 95-jährigen Lebens zusammenbringen zu wollen scheint - wie etwa dem, ihm fehle in der ganzen Debatte "ein Moment des Erschreckens vor den Folgen eines jeden Kriegs". Krieg war kein direkter Gegenstand seiner Philosophie, aber aus dem Interview wird deutlich, wie sehr er sich mit seiner ganzen Generation von Anfang an durch den historischen Bruch von 1945 geprägt fühlte: "Es musste etwas besser werden, und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde", lautet der Satz, dem die Herausgeber dann auch den Titel des Buchs entnommen haben.
Was sich als Leitmotiv durch sein Denken und dieses Interview hindurchzieht, ist die Überzeugung, dass es einen Fortschritt der Vernunft gibt - zwar nicht aufgrund irgendwelcher geschichtsphilosophischer Prinzipien, wohl aber als Ergebnis kollektiver Lernerfahrungen, die sich im Lauf der Zeit anhäufen. Seine eigene Lebensspanne deutet Habermas im Licht dieser Intuition: Ihm und seiner Generation sei es "vergönnt" gewesen, "zu Zeitgenossen einer friedlichen Gesellschaft mit anhaltend aufsteigenden Tendenzen zu werden".
Vor diesem Hintergrund versteht man das Ausmaß des Entsetzens, das ihn heute erfasst hat: "Nun knicken alle diese aufsteigenden Tendenzen mehr oder weniger abrupt ab." Ihn packe ein "Gefühl der Furcht vor einer auf längere Sicht weltweiten politischen Regression". Der russische Revanchismus treffe auf einen "ziemlich orientierungslosen" Westen, der sich über seinen "relativen Abstieg" keine Rechenschaft ablege und "regressiv an einem überholten politischen Selbstverständnis" festhalte.
Auf den ersten Blick scheinen solche Klagen der Deutung recht zu geben, dass dieses so universell daherkommende Denken letztlich doch an eine bestimmte geopolitische Konstellation gebunden war und nun noch zu Lebzeiten ihres Urhebers seine Relevanz verliere. Manche Polemiken warfen Habermas nach seinen ersten Interventionen zum Ukrainekrieg eine oberlehrerhafte Prinzipienreiterei vor, deren Anhänglichkeit an ein Ethos vernünftiger Kommunikation an der Realität der Gewalt scheitere - so als habe, auch wenn diese Folgerung natürlich nicht gezogen wurde, eher Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung als Kern des Politischen den historischen Belastungstest bestanden.
Doch bei näherer Betrachtung verhält es sich fast genau umgekehrt. Was Habermas kritisiert, ist gerade die Prinzipienreiterei derer, die die verlorene Macht des Westens nicht in Rechnung stellen und so bei ihren guten Absichten stehen bleiben, es nicht für nötig halten, sie in realistisch zu erreichende Ziele zu überführen. Den Glauben an die Möglichkeit einer Weltinnenpolitik, den er Ende der Neunzigerjahre gehabt hatte, hat er längst aufgegeben. In dieser paradoxen Konstellation entsprechen die sogenannten Realisten eher dem Klischeebild eines weltfremden Idealismus, der nun in Gefahr steht, das Militärische als ein politisches Mittel wie jedes andere zu betrachten, während der Philosoph als Verfechter politischer Urteilskraft auftritt, um so den Realitätsgehalt seines Denkens vor Fehldeutungen zu schützen.
Mit seinem jüngsten großen Buch, "Auch eine Geschichte der Philosophie", hat er das auch auf andere Weise getan, indem er dort den NATO/BRD-Horizont seines Denkens auf mehrfache Weise überschritt. Es geht dort um die "vermittelnde Rolle des Sakralen" für den Vernunftbegriff, konkret darum, welcher philosophische Gehalt den Religionen und vor allem dem Christentum aus "nachmetaphysischer" Perspektive abzugewinnen ist. In dem Interview, das dem Buch viel Raum gibt, erscheint dieser Ansatz als Exempel einer Betrachtungsweise, die universalistische Werte wie die Menschenrechte nicht nur abstrakt herleitet, sondern auch aus ihren unterschiedlichen "geschichtlichen Entstehungskontexten".
Mit einem ähnlichen Vorgehen, so legt Habermas nahe, könne man künftig auch dem "Eigensinn fremder Kulturen" gerecht werden und auch von dort her die im Westen formulierten Begriffe begründen und modifizieren. Schon in anderen Zusammenhängen, etwa der Debatte über den Dekonstruktivismus, sei ja die Annahme von "kulturellen Totalitäten und versiegelten Weltbildern, die füreinander unzugänglich sind", widerlegt worden.
Das ist natürlich eine sehr langfristige Perspektive, die der Habermas'schen Theorie zwar ein Leben über die Ära der westlichen Hegemonie hinaus ermöglichen könnte, aber gegen die dunklen gegenwärtigen Befürchtungen des Philosophen nur bedingt hilft. Mit sanfter Selbstironie spricht er selber von seinem "subjektiven Alterspessimismus", dem gegenüber er, sollte er nicht trügen, nur noch eine Hoffnung in Stellung bringen könne: "dass ein - hoffentlich ohne Krieg - weiter aufsteigendes China aus den Tiefen seiner langen, großen und vielfältigen Kultur" eines Tages die Vernünftigkeit einer Menschenrechtsordnung erkennt, "die der Menschheit im Ganzen gehört".
Das ist ein überraschender Ausblick, für den es momentan leider wenig Anhaltspunkte gibt. Er sei aber zu alt geworden, sagt er an anderer Stelle, sich den Glauben an die Vernunft durch "das Bild eines trostlosen Zyklus auf- und absteigender Kulturen oder Mächte" nehmen zu lassen. "Philosophisch" bleibe es dabei: "Wir sind es, die uns zusammenrappeln müssen!" Für eine Gegenwart, die zusehends dazu neigt, gegeneinander versiegelte Weltbilder anzunehmen und dadurch die Spielräume des Denkens immer enger werden zu lassen, bleibt Habermas ein Philosoph, der ihr helfen kann, die eigenen Befangenheiten hinter sich zu lassen.
Jürgen Habermas, "Es musste etwas besser werden . . .". Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp, 253 Seiten
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "'Es musste etwas besser werden ...'" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.