Besprechung vom 28.06.2025
Ode an den Augenblick
"Fugit inreparabile tempus", so lautet die berühmte Sentenz aus Vergils "Georgica". Dem Phänomen, dass "die Zeit unwiederbringlich flieht", stehen viele Menschen in den sogenannten mittleren Jahren plötzlich mit Schaudern gegenüber. Der schmerzhaften Tatsache, dass das eigene Leben endlich ist, man in der Zeit des jungen Erwachsenenlebens, der Mühle aus Arbeit, Beziehungspflege und Familiengründung, die eine Hälfte bereits gelebt hat, haben sich zeitgenössische Denkerinnen wie Barbara Bleisch und François Jullien zuletzt verstärkt gewidmet. Die Dichterin Marie T. Martin, die mit 39 Jahren starb, hatte indes keine Zeit mehr, diesen mittleren Lebensabschnitt auszuloten. Doch in ihrem Gedicht "Jetzt" aus ihrem postum veröffentlichten Gedichtband "Rückruf" nähert sie sich ihm dennoch.
Gleich zu Beginn werden wir in dieser Ode an den Augenblick aufgefordert, dorthin zu blicken "wo es schmerzt". Gemeint sind hier jene Dinge, die wir zu tun versäumt haben, denn oft ist der Moment, in dem es richtig und gut gewesen wäre, zu handeln, wenn wir uns endlich dazu entschließen, bereits vorbei. Oft tasten wir uns in unserem Leben durchs Dunkle, leben unbewusst und bemerken nicht einmal, was wir versäumen. Als "kairos" bezeichneten die Griechen jenen rechten Augenblick einer Handlung, den der Mensch nur dann zu bestimmen vermag, wenn er sowohl übereiltes als auch verspätetes Handeln zu verhindern weiß. Praktische Klugheit und eine gewisse Achtsamkeit sind die Voraussetzungen dafür, dass der rechte Augenblick erkannt und ergriffen werden kann. Marie T. Martin betrachtet in ihren Zeilen jedoch sein Gegenteil, die verpasste Gelegenheit. Aus ihren Zeilen spricht die Trauer um vertane Chancen, weil man eben "nicht in der Zeit verreisen" kann. Und doch macht das Gedicht das möglich, was die Wirklichkeit verbietet, denn "hebt die Zeit sich in den Zeilen auf", werden plötzlich auch unmögliche Dinge möglich. Da kann man sogar Züge anhalten oder in der Zeit zurückreisen, um die eigene Mutter zu beschützen, noch bevor man überhaupt geboren wurde.
Wenn sich die eigene Lebenszeit angesichts einer schlimmen Diagnose plötzlich drastisch verkürzt, verändert sich der Blick auf das Leben, und es stellen sich Fragen, die einen ansonsten erst Jahrzehnte später umgetrieben hätten: Was wäre wichtig gewesen, was habe ich versäumt? In ihrem Gedicht kreist Martin jedoch nicht um das eigene Selbst, das etwas verpasst oder sich nicht perfektioniert hat, sondern es geht darum, was man hätte tun oder geben können. Die Gedanken und Fragen beziehen sich zunächst auf das andere, sei es auf den blühenden Baum am Straßenrand, den man vielleicht nicht hinreichend wahrgenommen, oder Menschen, an denen man etwas versäumt hat: Wen hätte ich retten, halten oder berühren können?
Wie verirrte Blütenblätter ist das Wörtchen "jetzt" in die Zeilen getupft. Insgesamt zehnmal an bisweilen syntaktisch herausfordernden Stellen platziert, steht es nicht nur beispielhaft für die formale Freiheit moderner Lyrik, sondern gemahnt die Leser durch winzige Irritationen im Lesefluss auch daran, dass Zeit aus Augenblick um Augenblick besteht, den man eben nicht zum Verweilen bringen kann. Doch will man das stete Werden eigentlich wirklich anhalten? Das Du in diesem Gedicht begibt sich auf die Suche, will die Grenzen seiner gewohnten Welt ausloten und hinter das bereits Bekannte schauen.
Es sind die Stadt und die Geschichten jenseits der begrenzten Kinderwelt, die an der nächsten Kreuzung endet, die das lyrische Ich anziehen. Dahin, wo "die Stadt wächst" und "die Geschichten sind", hat es auch Marie T. Martin immer gezogen. In ihren Poemen, Kurzgeschichten und Prosa-Miniaturen kommt sie ihren Mitmenschen auf die Spur. Doch nicht nur anderen, sondern auch sich selbst ist die Autorin in ihren Texten dicht auf den Fersen. Sich selbst zu erkennen ist schwierig, erst recht dann, wenn die "Nacht die Farngehäuse versteckt", in denen wir uns zu verkriechen gewohnt sind. Das Licht, nicht zuletzt Sinnbild der Erkenntnis und Aufklärung, spielt in diesem Gedicht eine wichtige Rolle. Während in Strophe fünf das Kind, auf dem Rücksitz festgeschnallt, den Entscheidungen der Steuernden ausgeliefert ist, wählt Martin im Folgenden Reiher und Mauersegler als Metaphern der Befreiung und des Abschieds.
Der Himmel steht hoch am Ende dieses Gedichts; der Reiher, das Licht und das Jetzt beherrschen die letzte Strophe. Martin zeigt in ihrem Poem eindringlich, dass es uns nicht weiterbringt, verpassten Gelegenheiten hinterherzutrauern. Es scheint, als wolle sie dazu aufrufen, dem Dunkeln zu entkommen, seine Fesseln abzustreifen und daran zu erinnern, dass Aufklärung nicht nur den Ausgang aus der eigenen Unmündigkeit bedeutet, sondern auch mit dem mutigen Ergreifen des richtigen Moments eng verbunden ist. Und nebenbei beweist sie wieder einmal, dass die Lyrik ebenso frei ist wie die Gedanken und alle Grenzen des Möglichen zu sprengen vermag.
Marie T. Martin: "Rückruf". In: "Der Winter dauerte 24 Jahre. Werke und Nachlass". Verlag poetenladen, Leipzig 2024. 432 S., geb., 32,80 Euro.
Von Julia Trompeter ist zuletzt erschienen: "Versprengtes Herz". Gedichte. Verlag Schöffling & Co., Verlag, Frankfurt am Main 2023. 88 S., geb.
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