Besprechung vom 01.07.2025
Mehr Kanzlerdemokratie war nie
Unter Adenauer bildete das Kanzleramt die Machtzentrale. Vier Historiker untersuchen Auswahl, Sozialisation und NS-Belastung der Mitarbeiter.
Im Zentrum der Kanzlerdemokratie, die Konrad Adenauer aufbaute, stand ein straff geführtes und strikt auf den Mann an der Spitze ausgerichtetes Kanzleramt. Mit dessen Hilfe kontrollierte der erste Regierungschef der Bundesrepublik nicht nur die verschiedenen Ressorts und prägte die Personalpolitik der im Aufbau begriffenen Ministerien. Hierüber griff er auch in wichtige Gesetzesvorhaben ein und bestimmte das Bild der Regierung in der Öffentlichkeit. Das Kanzleramt formte auf diese Weise sowohl die institutionellen Arrangements als auch das personelle Tableau der zweiten deutschen Republik.
Bislang gab es wenig empirisch gesicherte Erkenntnisse über das Personal dieser obersten Bundesbehörde: über die Kriterien, nach denen es ausgewählt wurde, über die Sozialisation wichtiger Akteure, über ihre Vorstellungen von Staat und Gesellschaft, Demokratie und Recht - und über die Frage, wie sich diese Prägungen und Mentalitäten auf das politische Handeln der frühen Bundesrepublik auswirkten. Die vier im vorliegenden Band versammelten Studien geben Antworten auf diese Fragen. Gunnar Take analysiert die Personalpolitik des Kanzleramts. Nadine Freund zeichnet eine Kollektivbiographie seines Führungspersonals. Christian Mentel untersucht in sechs Fallbeispielen die Geschichtspolitik der Behörde, und Jutta Braun widmet sich dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, das bis 1958 zum Kanzleramt gehörte.
Den Studien geht es darum zu eruieren, wie die Zeit vor 1945 in die Bundesrepublik hineinragte und welche Spuren sie dort hinterließ. Für die Auswahl des Personals, das wird in allen vier Untersuchungen deutlich, war das Kriterium einer wie auch immer definierten NS-Belastung weniger wichtig als andere Faktoren. Was zählte, waren die Herkunft aus dem katholischen Milieu, eine konservative Gesinnung, bürgerliche Sozialisation, eine solide juristische Ausbildung und Erfahrungen im Verwaltungsdienst des Reiches, oft im Reichsinnenministerium.
Ob jemand Mitglied in der NSDAP gewesen war, erschien demgegenüber nachrangig. 38 Prozent der höheren Beamten und Angestellten im Bundeskanzleramt fielen laut Take in der Adenauer-Ära in diese Kategorie. Das war weniger als in den meisten anderen Bundesbehörden, aber mehr als in den Jahren 1963 bis 1969 unter den Kanzlern Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger (29 Prozent). Im Interesse einer effizienten Administration und hoher politischer Durchschlagskraft, so die These von Take und Freund, wollte Adenauer eine weltanschaulich, sozial und habituell möglichst homogene, vertrauenswürdige Beamtenschaft um sich versammeln.
Das galt nicht nur für das Kanzleramt, sondern auch für die Bundesministerien. Dort wusste der Regierungschef mithilfe von Hans Globke, Adenauers rechter Hand im Kanzleramt, eine Reihe von Staatssekretären gleichsam als Aufpasser potentiell unzuverlässiger Minister zu installieren. Man brauche, notierte Globke, altgediente Beamte wie ihn selbst, die "die ministerielle Praxis kannten und ihre Ohren überall hatten".
Da Adenauer ältere Spitzenbeamte bevorzugte, die wie er noch im Kaiserreich groß geworden waren, trat die Garde lang gedienter Staatssekretäre um Globke im Kanzleramt, Hans Ritter von Lex im Innen- und Walter Strauß im Justizministerium, Anfang der 1960er Jahre in relativ kurzer Folge ab. Adenauers Nachfolger flochten keine vergleichbar engmaschigen personellen Netzwerke mehr. Erhard dachte weniger in personellen Kategorien als in ökonomischen Strukturen. Kiesinger verfügte als Kanzler einer Großen Koalition mit der SPD über weniger Zugriff auf die einzelnen Ministerien, zumal des Koalitionspartners. Und Brandt erbte als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler eine Beamtenschaft, die zwei Jahrzehnte von der CDU geformt worden und nicht in kürzester Zeit von Schwarz auf Rot umzustellen war.
Die Anfangsjahre der Bundesrepublik, in der ein energischer Regierungschef, der nicht von allzu viel Skrupeln gehemmt war, Strukturen aufbauen, Personal rekrutieren und sich auf breiter Front Loyalitäten sichern konnte, boten Gelegenheiten, die nicht wiederkehrten. So gesehen, war die Kanzlerdemokratie ein Charakteristikum der 1950er Jahre und kein Strukturmerkmal der Bundesrepublik insgesamt.
Später erstritten sich die Ressorts mehr Eigenständigkeit. Die Parteiapparate gewannen an Gewicht. Koalitionsrunden wurden wichtiger. Das Kanzleramt verwandelte sich von einer Machtzentrale in eine Koordinationsinstanz. Die ältere Zeitgeschichtsforschung hat die von Adenauer geschaffene Behörde als Vehikel der Stabilisierung der Bundesrepublik und ihrer inneren wie äußeren Westbindung gewürdigt und den partiellen Kontrollverlust seither als Schwäche der Nachfolger bemängelt. Take und Freund indessen deuten die Entwicklung seit Erhard positiv: als "Modernisierung der Verwaltung" und "Dezentralisierung der Personalpolitik".
Die mangelnde Pluralität und Diversität in der Beamtenschaft unter Adenauer sehen sie hingegen kritisch, weil sie die gesellschaftliche Wirklichkeit nur ungenügend widergespiegelt und "(Re-)Migranten, Angehörige von Verfolgtengruppen wie Juden, Sinti oder Roma sowie die ebenfalls beträchtliche Zahl fachlich qualifizierter Frauen" bei der Personalauswahl ignoriert habe.
Hatte die ältere Historiographie dazu tendiert, den ersten Kanzler zu idealisieren und zur Messlatte aller folgenden Regierungschefs zu machen, laufen Take und Freund Gefahr, ins andere Extrem zu verfallen: Sie neigen dazu, die Kanzlerdemokratie der frühen Bundesrepublik über den Leisten heutiger Werthaltungen zu schlagen, und vernachlässigen dadurch demokratische Lern- und Aneignungsprozesse. Sie übersehen, dass sich nicht nur die Demokratievorstellungen und das Rechtsverständnis Adenauers und seiner hohen Beamten von gegenwärtigen Werthaltungen unterschieden, sondern auch die politischen Ansichten der Wähler, welche die CDU in fünf Wahlen als Kanzlerpartei bestätigten.
Ein Vergleich mit anderen westlichen Ländern, wie ihn Jutta Braun zu Beginn ihrer Studie über das Bundespresseamt unternimmt, hätte als Korrektiv dienen können. Vor allem hätte er klarer gemacht, welche Phänomene deutsche Eigenheiten waren (so etwa die Wiederbelebung des Berufsbeamtentums oder die doppelte Erfahrung von Kriegsniederlage und Besatzungsherrschaft nach 1918 und 1945) und welche nicht (die Marginalisierung von Frauen in Regierung und Verwaltung oder ein im Vergleich zu heute weniger egalitäres Politikverständnis).
Weitgehend blind sind die meisten Beiträge für die äußere Bedrohung durch die Sowjetunion, der sich die Bundesrepublik ausgesetzt sah. Den Aufbau der Bundeswehr deuten sie eher als Fortführung militaristischer Traditionen durch eine nationalistische Beamtenschaft denn als Reaktion verantwortungsbewusster Staatsdiener auf eine tatsächliche Gefährdung der Sicherheit.
Derartigen Blickverengungen zum Trotz füllt der fast 900 Textseiten umfassende, vom Münchener Institut für Zeitgeschichte gemeinsam mit dem Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung verantwortete Band die letzte wichtige Lücke in der Erforschung der NS-Belastung (west)deutscher Ministerien und Behörden. Die Exekutive hat ihr Soll in Sachen Vergangenheitsaufarbeitung damit aufs Ganze gesehen in bewundernswert umfassender Weise erfüllt. Was Regierung und Verwaltung betrifft, ist das Personal des Neuanfangs nach 1949 nun bekannt. DOMINIK GEPPERT
Jutta Braun, Nadine Freund, Christian Mentel, Gunnar Take: Das Kanzleramt. Bundesdeutsche Demokratie und NS-Vergangenheit.
Wallstein Verlag, Göttingen 2025. 938 S.
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