Besprechung vom 19.01.2025
Die Wildnis ist überall
Die ökologische Katastrophe ist in Kinderbüchern angekommen. Einige sind nur pseudoaktivistisch. Die guten begleiten Kinder beim Erkunden und Verstehen dessen, was um sie herum vor sich geht.
Von Bettina Hartz
Im Jahr 2060 wird es weltweit ungefähr dreimal so viel Plastikmüll geben wie heute. Flächenversiegelung und CO2-Ausstoß nehmen beständig zu, und noch nie gab es in Deutschland so viele zugelassene Kraftfahrzeuge wie heute. Das Ziel des Pariser Klimaabkommens von 2015, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, wird voraussichtlich schon in wenigen Jahren obsolet sein. Vom voranschreitenden Artensterben, dem Zustand der Böden, der Abholzung der Wälder nicht zu reden. Der Erdüberlastungstag wurde 2024 am 1. August erreicht, und jedes Jahr rückt er im Kalender weiter nach vorn.
Die Lage ist düster. Doch obwohl die sich langsam vollziehende ökologische Katastrophe in den meisten Köpfen angekommen ist, entspricht unser Handeln keineswegs unserem Wissen. Wir sind schlicht überfordert und verdrängen daher, so gut es geht. Und wenn wir in die Welt der Kinderbücher schauen, sehen die Kinder, die sie lesen oder vorgelesen bekommen: Märchen, Bauernhöfe, bunte Schmetterlinge, eine Natur ohne Müll, die reine Idylle.
Aber dann, im höheren Kita- und beginnenden Grundschulalter, gibt es Projekttage, und die Kinder erfahren ein paar Details aus der Wirklichkeit. Hören von Erderwärmung und Klimawandel, Plastikmüllozeanen, dem Sterben der Korallenriffe, von Waldbränden und Bodentrockenheit. Manche sind in den Ferien sogar direkt mit den Auswirkungen menschlich verursachter Umweltschäden konfrontiert: Wälder mit Fichtentotholz, am Flussufer Berge von Fischkadavern, flirrende Hitze und leere Swimmingpools. Sie fragen die Erwachsenen, was da los sei und was man gegen all das tun könne. Und bekommen Bücher mit Titeln wie "Kein Müll mehr! 30 Ideen, dieses Ziel zu erreichen" oder "Unsere wunderbare Werkstatt der Zukünfte. 99 Ideen fürs Anthropozän" (welches Kind wohl weiß, was das ist?).
Aus solchen Büchern lernen sie dann, den Planeten zu retten, indem sie aus alten T-Shirts Täschchen nähen, Tetrapacks in Anzuchttöpfe verwandeln oder aus Kerzenresten neue Kerzen machen. Angepriesen werden diese Werke, die die Botschaft vermitteln, jeder Einzelne könne die Welt retten - indem er ein paar Kleinigkeiten in seinem Leben ändere, und ausgerechnet die Kinder sollten mit gutem Beispiel vorangehen - mit Sätzen wie: "Dieses Buch ist voller unterhaltsamer Ideen, die Kindern helfen, nachhaltige Entscheidungen zu treffen."
Das tun diese Bücher ganz sicher nicht. Denn so zu basteln und zu pflanzen ist vielleicht "unterhaltsam", aber ganz sicher nicht "nachhaltig": Das Pflänzchen ist rasch vertrocknet, der Recycling-Kram liegt in der Ecke, und am eigentlichen Problem, dass wir die Welt nämlich immer nur als Konsumenten sehen, ändert das alles nichts. Und auch wenn man versteht, dass diese Bücher Mutgeber sein wollen, um das Gefühl der Ohnmacht angesichts des Ausmaßes der Verheerungen zu überwinden: Sie erwecken doch vor allem den Eindruck, zuallererst das schlechte Gewissen der Erwachsenen beruhigen zu sollen, und tragen mit ihrer falsch-optimistischen, aktivistischen Geste dabei auf ihre Weise zur Verdrängung der so viel gravierenderen Tatsachen bei.
Wohnen, Ernährung und Verkehr sind die Hauptklimakiller, und selbst wer in seinem Alltag alles "richtig" machte, ist in Infrastrukturen und Produktionsweisen eingebettet, die alles andere als nachhaltig sind. Individuelle Entscheidungen können niemals die Einsparpotentiale, Transformationskräfte generieren, die für ein wirklich ökologisches Wirtschaften notwendig sind. Für die Entwicklung eines wirklichen Begreifens ökologischer Zusammenhänge bei Vor- und Grundschulkindern bedarf es vor allem zweier Dinge: des Vorbilds der Erwachsenen und des direkten Umgangs in und mit der Natur.
Wald, Wiese, Hügel und Strand sind voller wunderbarer Spielsachen und Baustoffe; und was Natur ist und dass es selbst Natur ist, lernt ein Kind nicht aus Büchern, sondern dort. Aber es gibt Bücher, die das Kind beim aufmerksamen und immer aufmerksameren Schauen und Erkunden, beim Begreifen dessen, was vor sich geht, begleiten können. Sie erzählen von fernen Welten, wie dem Regenwald, von Arktis oder Tiefsee; oder von der ganz nahen und vertrauten Umgebung, der Straße, der Wiese, dem Hügel vor der Tür. Und von Kindern wie ihnen selbst und was diese in und mit der Natur erleben, wie sie deren Reichtum und Schönheit entdecken.
Das im Verlag Urachhaus erschienene, von Sanne Dufft geschriebene und gemalte Buch "Tinkas Tomaten" ist so ein Begleiter. Ganz aus der Welt der etwa fünf Jahre alten Tinka heraus erzählt, die von ihrem Großvater drei Tomatensetzlinge geschenkt bekommt, zeigt es, dass es tägliche Fürsorge und viel Geduld braucht, bis man seine eigenen Tomaten ernten kann: gießen, anbinden, ausgeizen, düngen. Es ist Arbeit und Liebe, denn: Wie wunderbar ist es für Tinka zu sehen, wie aus den gelben Blütensternen erst kleine Tomatenbabys werden und dann große rote Tomaten. So viele, dass Tinka allein sie gar nicht alle essen kann.
Aus alter Pappe bastelt sie daher Kistchen (ganz ohne Do-it-yourself-Anleitungsbuch!), füllt sie mit "ihren" Tomaten und verschenkt sie an Opa, Nachbarin und Freund Jasper, die in den Ferien fleißig für Tinka weitergegossen haben. Ohne jede aktivistische Attitüde hat diese kleine Geschichte alles, was es für eine ökologische Sensibilisierung braucht: Sie erzählt von Verantwortung für ein Lebewesen, von Freude an Wachstum, Reife und Ernte, vom Kreislauf der Natur, den Bedürfnissen der Pflanzen - und auch denen von uns Menschen: davon, wie schön es ist, etwas gemeinsam zu tun und die Früchte dieses Tuns zu teilen.
Verantwortung für ein Lebewesen übernehmen auch die beiden Brüder Janne und Matti in Kristina Andres spannender Erzählung "Zicke Zacke Igelkacke" (für Kinder ab sechs Jahren). Die Herbstferien verbringen die Jungen bei ihrer Tante Olga, die mit Hund und zwei Katzen in einem alten Haus am Waldrand wohnt. Eigentlich gibt es auf dem Hof so kurz vor dem Winter noch genug zu tun - aber da steht plötzlich Frau Müller mit zwei mutterlosen Igelbabys vor der Tür. Wer selbst ein Kind hat(te), das, mit Lupe bewaffnet, stundenlang vor einem Einweckglas saß und "seinem" Regenwurm beim Fressen zusah, weiß, was jetzt passiert. Janne und Matti adoptieren die Igelwaisen und bringen sie mit Olgas Hilfe durch - alle vier Stunden Fläschchen geben, Wunden versorgen und Berge von stinkender Igelkacke beseitigen inklusive. Es sind ihre anstrengendsten, aber auch schönsten Ferien, an deren Ende sie stolz verkünden können: Die Igel sind nun groß und kräftig genug, um den Winter draußen im Freien allein zu überstehen.
Wer als Kind im Sommer den Baum vor seinem Haus gießt, Eicheln und Kastanien für Wildtiere sammelt, ein Vogelhäuschen baut oder ein Taubennest auf der Fensterbank hat und dem rasanten Wachstum der Küken zusieht, beginnt, in Pflanze oder Tier ein Gegenüber zu sehen, ein Lebewesen, das Nahrung braucht, Angst hat, Schutz sucht wie wir selbst. Und das anpassungsfähig ist, erfinderisch, das sich neue Habitate und Nahrungsquellen erschließt, auch und gerade in der Stadt. Wunderbar, wenn die Wahrnehmung des Kindes - heute war ein Fuchs auf unserem Schulhof! - in Büchern gespiegelt und vertieft wird.
Der mit eigenen Augen gesehene Fuchs trifft so auf eines der Tiere in Annegret Ritters wunderbar genauem und einfühlsamem, auch sehr lustigem Buch "Im Wald wird's eng", in dem sie in Text und vielen Bildern vom Umzug der Waldtiere in die Stadt erzählt, wo es wärmer ist und es mehr Nahrung für sie gibt, wo den Tieren aber auch viele neue Gefahren drohen. Das Buch endet mit den Worten: "Wenn du geduldig bist, kannst du auch in deiner Nachbarschaft wilde Tiere entdecken! Schau genau hin!", und regt dazu an, die Entdeckungen im Buch zur Grundlage für eigene Erkundungen im Stadtraum zu nehmen. Denn Pflanzen und Tiere gibt es hier überall, man muss sie nur wahrnehmen.
Vom genauen Hinschauen und der Geduld, die es für Entdeckungen im für uns schon fast Mikroskopischen braucht, erzählt Juli Litkei in "Da wächst doch was". Vom Glossar abgesehen, kommt ihre Erzählung vom Wachstum einer Kartoffelpflanze ganz ohne Worte aus. Auf 22 Doppelseiten, die alle denselben Querschnitt durch den Lebensraum der Pflanze ober- und unterhalb der Erde zeigen, begegnen uns sowohl Bodenbewohner wie Regenwürmer, Feldmaus und Maulwurf als auch viele oberirdisch lebende Wesen: Schnecken, Käfer, Schmetterlinge, Hummeln und Bienen, eine Amsel und die jedes Kind begeisternden Feuerwanzen. Alle haben sie viel zu tun, suchen Nahrung, bekommen Nachwuchs, hinterlassen ihr Geschäft, und alle sind sie aufeinander angewiesen. Hier lässt sich in aller Ruhe schauen, einzelnen Tieren bei ihrem Tun zusehen, aber man kann dem Kind auch Fragen stellen, gemeinsam nach Antworten suchen, Nahrungsketten und Bodenkunde erklären, die Wirkungen von Wind und Regen betrachten.
Juli Litkei hat das alles so fein ins Buch gesetzt, dass man selbst Lust bekommt, vorsichtig zu graben, zu forschen, zu zeichnen. Verblüffend, wie sie es schafft, die Langsamkeit (andererseits verblüffende Schnelligkeit) des Wachstums wiederzugeben und selbst bei den Kleinsten Verständnis für eine komplexe Pflanzen- und Tiergemeinschaft zu wecken und für die Grundlage allen Lebens an Land: den Boden.
Die Wildnis ist überall, auf der Türschwelle, im Küchenschrank, im und auf dem eigenen Körper - es ist nur eben eine vertraute Wildnis, nicht die exotische von Papagei, Zebra oder Tiger, weshalb wir sie oft gering schätzen, gar übersehen. Dabei sind Saftkugler, Tausendfüßer und, ja, der Regenwurm! doch ganz und gar wunderbare, staunenswerte Wesen, und was für Zauberkräfte wirken da bloß, dass aus einem winzigen Samenkorn eine riesige Pflanze sprießt, gar ein Baum?! Das und noch viel, viel mehr lernen Kinder und Erwachsene mit dem grandiosen Sachbuch "Ein Baum kommt selten allein" von Elisabeth Etz und Nini Spagl, die so viel Wissenswertes über Bäume zusammengetragen und dieses Wissen so gut erklärt und vergnügt ins Bild gesetzt haben, dass es die reine Freude und richtig spannend ist.
Hier haben sich zwei wirklich fundiert Gedanken gemacht, wie sie Baum- und Waldwissen für Kinder präsentieren, faktenreich, aber alles andere als trocken. Und auch mit vielen Umweltschutz-Mythen, die nichts als Greenwashing sind, räumen sie auf. Natürlich wird so ein Buch dann auch mit besonderem Augenmerk auf den eigenen ökologischen Fußabdruck hergestellt, nach strengsten Umweltstandards - auch das ein Umstand, den viele "Öko"-Bücher nicht beachten und der deshalb lobend hervorzuheben ist.
Kathryn Kellogg: "Kein Müll mehr! 30 Ideen, dieses Ziel zu erreichen". Laurence King Verlag, 6,95 Euro. Melanie Laibl (Text) / Corinna Jegelka (Ill.): "Unsere wunderbare Werkstatt der Zukünfte. 99 Ideen fürs Anthropozän - Ein Mitmach-Buch". Edition Nilpferd, 20 Euro. Sanne Dufft: "Tinkas Tomaten". Urachhaus, 16 Euro. Kristina Andres: "Zicke Zacke Igelkacke". Moritz, 12 Euro. Annegret Ritter: "Im Wald wird's eng". Kunstanstifter, 22 Euro. Juli Litkei: "Da wächst doch was". Gerstenberg, 20 Euro. Elisabeth Etz / Nini Spagl: "Ein Baum kommt selten allein". Leykam
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