Besprechung vom 24.05.2022
Nicht der Markt allein
Unternehmen und die Herausforderungen der Geopolitik - ein Leitfaden zur rechten Zeit
Als der Bundeskanzler neulich bei Anne Will saß und das Wort "Geopolitik" - dazu die Anführungsstriche gestikulierend - in den Mund nahm, schauderte es ihn regelrecht. Geängstigt, wie er ausdrücklich sagte, habe ihn die Betonung dieses Begriffs durch Wladimir Putin. Schließlich sei damit ein Angriff auf die gesamte Friedensordnung verbunden, ein Bruch mit dem völkerrechtlichen Grundsatz unverletzlicher Grenzen. Olaf Scholz strich damit zweierlei heraus: erstens, wie zwielichtig jedes von Geopolitik getriebene Handeln sei; zweitens, wie aktuell und unabdingbar es ist, sich mit geopolitischen Rahmenbedingungen und Handlungsmustern in der gegenwärtigen Staatenwelt zu beschäftigen.
Vor diesem Hintergrund ein Buch vorzulegen, das dem "geopolitischen Risiko" gewidmet ist, wirkt wie eine Punktlandung, die kaum besser glücken könnte. Und doch scheint diese Schrift, deren Manuskript vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs abgeschlossen worden ist, wie aus einer anderen Zeit. Russland und die Ukraine finden zwar die eine oder andere Erwähnung, bleiben aber am Rand einer weltpolitischen Dynamik, die ganz von den Vereinigten Staaten und China bestimmt wird. Dazwischen situiert liegen Deutschland und Europa, die sich seit jeher besonders schwer damit tun, in ihre Strategien geopolitische Parameter einzubeziehen.
Gerade in deutscher Tradition ist "Geopolitik" ein kontaminierter Begriff: Im schlimmsten Fall erinnert er an geodeterministische Rechtfertigungen der Eroberung von "Lebensraum im Osten" oder zumindest an eine darwinistisch inspirierte, auf das Recht des Stärkeren setzende Großraumordnung im Geiste eines Carl Schmitt. Auch wer darunter lediglich eine knallharte, der Moral entwundene Macht- und Realpolitik versteht, die Gegebenheiten der politischen Geographie ins Zentrum stellt, dürfte mindestens in normativer Hinsicht mit einem solchen Zugang hadern. Andererseits wirkt die Leugnung raumbezogener politischer Phänomene nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine einigermaßen naiv.
Katrin Suder und Jan Kallmorgen blenden die schwierige Begriffsgeschichte von vornherein aus, nutzen aber indirekt den Umstand, dass diesem Terminus etwas Anrüchiges und Gefahrenumwittertes anhaftet, um die Spannung zu erhöhen. Der wertfrei und nüchtern empirisch daherkommende Begriff der Geopolitik wirkt bei ihnen wenig spezifisch, fast wie aus den Fugen geraten, wenn darunter - vor allem aus Sicht global vernetzter Unternehmen - generell Fragen nach zeitgemäßen Formen des Wirtschaftens in einer ebenso komplexen wie kompetitiven und konfrontativen Welt gefasst werden.
Die Absicht der beiden Autoren ist nicht eine wissenschaftliche Abhandlung über theoretisch unterfütterte Konstellationsanalysen der internationalen Ordnung, sondern vielmehr auch eine gegenwarts- und anwendungsorientierte Politikberatung. Sowohl die Physikerin und ehemalige Staatssekretärin im Bundesverteidigungsministerium Suder als auch der Historiker und Politologe Kallmorgen, der unter anderem für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik arbeitete, leiten Unternehmen zur globalen Strategieberatung und weisen ein hohes Maß an Sachkenntnis auf. Dass beide keine Buchautoren sind, ist an manchen Stellen zu merken, die als Grundlage ein Planungspapier oder Memo, eine PowerPoint-Präsentation oder Mindmap erahnen lassen. Der (mögliche) Praxisbezug wird durch einen dem Buch vorangestellten Disclaimer unterstrichen, heißt es dort doch: "Jedwede Haftung für eventuelle Schäden, die aus der Befolgung der in diesem Buch gegebenen Hinweise resultieren, wird nicht übernommen."
Welche Themen werden in dem Band behandelt, welche Ratschläge gegeben? An vorderster Stelle steht der inständige Appell an global eingebundene Unternehmen, ein Bewusstsein für internationale Konstellationen und Krisen konzentrierter und systematischer als bisher auszubilden, würden markt- und betriebswirtschaftliche Erwägungen allein doch zu kurz greifen. Im nächsten Schritt sensibilisieren Suder und Kallmorgen für die Konsequenzen der amerikanisch-chinesischen Systemrivalität, die das geopolitische Szenario der 2020er-Jahre wesentlich prägen werde - neben aus dem Völkerrecht ausscherenden Autokratien und einem steigenden Migrationsdruck.
Die daraus erwachsenden Unsicherheiten erfordern von Unternehmen nicht nur genaue Lageanalysen im Vorfeld möglicher Investitionen, sondern auch frühzeitige Alternativpläne im Falle plötzlicher Krisenszenarien, die Produktionsbedingungen und Lieferketten ebenso wie Exportmärkte betreffen könnten. Neben solch politischem Risikomanagement sei eine unternehmerische Haltungsänderung gegenüber Fragen der Nachhaltigkeit und sozialen Verantwortung, des Klimawandels und der Menschenrechte nötig, die Suder und Kallmorgen im nächsten Kapitel behandeln. Beide sind davon überzeugt, dass dies nicht nur ethisch geboten sei, sondern auch und vor allem auf mittlere und längere Sicht Wettbewerbsvorteile mit sich bringen werde. Neben Geopolitik "im engeren Sinne" sei dieser "neue Imperativ" ebenfalls zu beachten. Zu einem geweiteten geopolitischen Sensorium gehöre schließlich ein gesteigertes Bewusstsein für (digitale) Technologie als einem nicht zu unterschätzenden Machtfaktor.
Neben Lagebildern liefern die Autoren auch Handlungsempfehlungen und legen Unternehmen zum Abschluss nochmals dringend ein "Geopolitik-Upgrade" nahe, das ihnen ein neues Maß an Analysefähigkeit und Wachsamkeit in einer so globalen wie volatilen, von Politik und Geographie abhängigen Produktions-, Absatz- und Finanzwelt abverlangt. Sollte dieser Weckruf angesichts der europäischen Kriegssituation seit dem 24. Februar 2022 in anderer Weise nicht ohnehin bei den Akteuren angekommen sein, so mag dieses Buch in sanfterer und doch eindringlicher Weise nachhelfen. Es ist auch für Repräsentanten von weltweit vernetzten Mittelstandsbetrieben ohne spezialisierte Politikabteilungen gut zu lesen.
Viel mehr als einen solchen Anstoß gibt der Band aber nicht, dazu bleiben die Ausführungen, so gut informiert sie sind, dann doch zu allgemein. Sie werden im Fall der Fälle allerdings zu mancher Nachfrage bei auf internationale Koordinatenerfassung spezialisierten Beratungshäusern anregen. Insofern machen Suder und Kallmorgen auch Werbung für den eigenen, in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckenden Berufszweig, der vor dem Hintergrund eines unruhigen Weltgeschehens an Bedeutung gewinnen dürfte. ALEXANDER GALLUS
Katrin Suder/ Jan F. Kallmorgen: Das geopolitische Risiko. Unternehmen in der neuen Weltordnung.
Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York 2022, 228 S.
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